Gerne stellt eine Freundin von mir, wenn sie ein bisschen durch den Wind ist, die Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Das ist auch der Titel eines Buches von Richard David Precht über Philosophie, das ich noch nicht gelesen habe, es mir aber bald zulegen möchte.
Heute Morgen habe ich mit zwei Kolleginnen darüber gesprochen, dass ich eigentlich ein „Unfall“ war. Meine Mutter, mit abgeschlossenem Studium des Graphikdesigns, war drauf und dran, in einer Agentur in Frankfurt zu arbeiten, so zumindest meine Erinnerung an ihre Erzählungen. In dieser Zeit stellte ihr Frauenarzt sie von einer „Pille“ auf eine andere um. Das neue Präparat war etwas schwächer, und zwei oder drei Zyklen war damit die Empfängnisverhütung weniger zuverlässig, der Arzt sagte ihr das aber nicht – und gleich im ersten fraglichen Zyklus gab’s dann mich oder eher meinen Anfang. Ich habe erst spät davon erfahren, konnte dann zurücksehen, kurz nachdenken und sagen: „Hat man nicht gemerkt.“ Dennoch macht es natürlich etwas mit einem, wenn man als geliebtes, erwünschtes, aber zu einem anderen Zeitpunkt vorgesehenes Kind den Berufseinstieg der Mama verhagelt hat. Ich fühle mich deswegen nicht zurückgesetzt, ich habe auch kein schlechtes Gewissen deswegen. Ich sehe nur, wie groß der Einfluss auf das Leben meiner Mutter war. Für ihre Eltern und die Eltern meines Vaters war ganz selbstverständlich, dass meine Mutter zuhause zu bleiben hatte und sich um die Kinder kümmerte. Sie stieg erst ein, als etwa 15 Jahre später meine Schwester und ich beide in unseren Teenager-Jahren waren. Ich würde gerne sagen, heute ist das völlig anders. Freilich, es IST anders. Aber an der Aufgabenverteilung in Familien mit Kindern hat sich wenig geändert, sondern vor allem an dem Druck, was die Mütter neben allen Aufgaben, die sie als Hausfrauen und Mutter früher tun sollte, eben zusätzlich noch tun sollen – Arbeiten, erfolgreich und sportlich sein… Zwei meiner Freundinnen kämpfen mit diesem Problem, die eine zuhause, die andere mit Job, bei beiden funktioniert das paritätische Verteilen der Aufgaben zwischen den Eltern nicht richtig.
Ich leite schon über. Denn ich habe keine Kinder, kann keine bekommen und habe mich auch in Abstimmung mit meinem Mann irgendwann Mitte 30 entschieden, dass wir nicht den Adoptionsweg gehen. Bei uns bin ich die Hauptverdienerin, ich arbeite voll, mein Mann hat reduziert und kümmert sich mehr um den Haushalt als ich. Wäre das mit einem adoptierten Kind auch so? Ich weiß es nicht. Es ist immer anders, wenn’s wirklich ist, als wenn man es sich nur theoretisch überlegt.
Aber ich bin nicht nur die kinderlose Hauptverdienerin als Beamtin im Strahlenschutz. Ich bin auch auffällig. Es kennen mich fast stets mehr Leute, als ich im Gegenzug kenne, ganz oft muss ich nachdenken und erstmal forschen: „Wer könnte das sein, wo kenn ich diese Person her, die mich da gerade mit Namen gegrüßt hat?“ Ich rede mich gerne darüber raus, dass ich nicht besonders gut in Namen-Gesicht-Zuordnung bin. Aber tatsächlich besteht wohl eine Asymmetrie: Wesentlich mehr Leute wissen, wer ich bin, als ich umgekehrt Leute kenne. Warum das so ist? Nun… ich bin auffällig, wie eingangs dieses Absatzes geschrieben. Ich rede viel, erzähle über mich, kleide mich auffällig, habe mehrere Hobbies, die mich auffallen lassen. Ich könnte natürlich zur grauen Maus werden, aber das wäre nicht mehr ich. Also muss ich damit leben, dass Leute mich kennen, ich aber manchmal erst eine Weile brauche, um zu wissen, wer sie sind – oder manchmal auch schlicht zugeben muss, dass mich da jemand kennt, den ich nicht kenne.
Wer bin ich also, und wenn ja, wie viele?
Zunächst einmal ist die Antwort eindeutig „ja“. Auf die bedingte Frage, wie viele ich bin, muss ich natürlich wegen des „ja“ auch antworten. Diese Zahl ist ein bisschen unbestimmt.
Ich bin die, die dumme und ganz selten auch mal schlaue Wortspiele macht. Ich bin die, die über ihre eigenen Witze lacht, wenn’s sonst keiner tut. Ich bin die, die nach dem Absolvieren des Arbeitswegs auch mal (wenn es keinen Publikumsverkehr gibt) den Tag lang in Sportsachen im Büro herumhängt. Ich bin die mit den Nerdshirts, gerne mit Wonder-Woman-Logo auf der Brust, oder mit Star-Trek-Referenzen oder Schrödingers Katze. Alternativ bin ich die, die einen Turnanzug als normales Oberteil im Alltag unter VNV-Nation-Sweaterjacke oder auch mal unter Blazer trägt. Ich bin die, die ein komisches, nicht besonders erfolgreiches Buch geschrieben hat. Ich bin die Sportlerin, Bloggerin, Minecraft-Spielerin. Nicht zuletzt, alles andere als zuletzt bin ich die Mau vom Wolf, also die Frau meines Mannes – Mau und Wolf sind unsere Spitznamen füreinander.
Ich bin die eine, die viele ist. Ich bin die Borg… nee, halt, das war nun falsch.
Die Frage, wer ich bin, habe ich schon mehrfach hier gestellt. Es gab auch schonmal das gesungene Fragespiel zwischen Rachel House und Auli’i Cravalho: „Who am I? I am a girl who loves my island, and a girl who loves the sea – it calls me […] I am Vaiana!”, das ich als Symbol für die verwendet habe, die ich bin. Es tut mir gut, die Frage hin und wieder hier zu stellen. Meistens bekomme ich dafür ganz schrecklich positive Resonanz, wenn ich diese Fragen stelle und mir selbst beantworte. Vermutlich auch deswegen, weil durchscheint, dass ich (mittlerweile) das Selbstvertrauen habe, im Zweifel grinsend selbstironisch mit einer ebenfalls musikalischen Zeile zu antworten, nämlich mit Eminem (ohne mich mit „Without Me“ von ihm zu identifizieren, nur den Satz herausgegriffen):
„It’s just me, I’m just obscene!“
Ein Kommentar zu „Wer ich bin“