Verrückt

Verrückt war dieser Tag heute, verrückt ist diese Zeit. Klar, jeder denkt nun an Corona, aber das Thema ist tatsächlich bei dem Grund, warum ich das hier schreibe, nur als einer von mehreren „Grundbässen“ dabei. Die Melodie machen andere Sachen…

Das Leben verändert sich für mich gerade mit einem atemberaubenden Tempo. Nicht nur, dass ich inzwischen mit einem Fahrradanhänger Wocheneinkäufe und Essensabholungen erledige, somit das Auto steht, nein, ich habe auch das Inline-Skaten begonnen – das habe ich ja hier schon mehrfach erzählt.

Was nicht so viel thematisiert wurde, sind andere Dinge, die ins Rutschen gerieten. Mein Mann und ich beginnen derzeit, unsere Wohnung ein wenig umzugestalten und mehr unseren Bedürfnissen anzupassen. Vor neuneinhalb Jahren sind wir hier eingezogen, wir haben die eine oder andere Sache modifiziert, aber dann war lange Ruhe. Derweil veränderte sich unser Leben, veränderten sich unsere Lebensgewohnheiten, und wir wohnten immer noch in einer Wohnung, die wir von der Schwester meines Mannes und ihrer Familie übernommen hatten, mit kleinen Veränderungen und nicht wenigen Teilen des Mobiliars der Junggesellen-Wohnung meines Mannes und meiner Studentenbude. Nun haben wir den noch hier verbliebenen Holzofen abbauen lassen, den Kamin dafür schließen. Wir nutzten ihn eh nicht, nun ist an seiner Stelle erheblich mehr Platz und eine Spirituosen- und Sport-Trophäen-Vitrine. Das Gästezimmer wird langsam zum Homeoffice/Gästezimmer/Ersatzwohnzimmer. Es geht vieles voran!

Dazu merke ich wieder, wie sehr das Radfahren bei mir etwas anspricht, das bei anderen von Autos angesprochen wird: Tuning, Bastelei, Upgrades. Leistungsmesser-Kurbeln, Trikots, die zu meinen Geschichten passen, Trikots der Sport Löwen, nun auch Zeitfahr-Lenker-Extensions für das grüne Carbon-Rad, den Green Scooter Killer.

Warum ich heute darüber schreibe? Nun, gestern Abend wollte ich die Lenker-Extensions montieren, das erwies sich als nicht ganz einfach, so ganz nebenbei entdeckte ich dabei, dass meine Vorderradbremse am Rennrad nicht mehr richtig zurückschnappte, weil eine Achse verdreckt war. Das habe ich behoben, dazu die Extensions montiert und war stolz wie eine Königin. Heute früh war ich morgens im Homeoffice, dann beim Arzt, bekam meinen ersten Impftermin vereinbart, fuhr ins Büro, um Post zu sichten und ein paar Dinge zu klären, fuhr wieder heim und hielt eine Schulung für unsere Neuen. Dann testete ich ausgiebig die Lenker-Extensions und war völlig begeistert. Dazu wird es langsam wärmer – freilich, schön wird’s nur am Sonntag, aber kalt ist inzwischen nicht mehr so kalt wie noch in der kalten Jahreszeit.

Ich sprieße, blühe auf. Der metaphorische Winter, in den Corona uns am Ende des letzten Winters geschickt hat, hat mich viele Knospen treiben lassen – und vieles davon blüht nun auf. Und da wird einiges verrückt, an neue Stellen, gewinnt neue Qualitäten.

Ver-rückt eben!

Wer ich bin

Gerne stellt eine Freundin von mir, wenn sie ein bisschen durch den Wind ist, die Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Das ist auch der Titel eines Buches von Richard David Precht über Philosophie, das ich noch nicht gelesen habe, es mir aber bald zulegen möchte.

Heute Morgen habe ich mit zwei Kolleginnen darüber gesprochen, dass ich eigentlich ein „Unfall“ war. Meine Mutter, mit abgeschlossenem Studium des Graphikdesigns, war drauf und dran, in einer Agentur in Frankfurt zu arbeiten, so zumindest meine Erinnerung an ihre Erzählungen. In dieser Zeit stellte ihr Frauenarzt sie von einer „Pille“ auf eine andere um. Das neue Präparat war etwas schwächer, und zwei oder drei Zyklen war damit die Empfängnisverhütung weniger zuverlässig, der Arzt sagte ihr das aber nicht – und gleich im ersten fraglichen Zyklus gab’s dann mich oder eher meinen Anfang. Ich habe erst spät davon erfahren, konnte dann zurücksehen, kurz nachdenken und sagen: „Hat man nicht gemerkt.“ Dennoch macht es natürlich etwas mit einem, wenn man als geliebtes, erwünschtes, aber zu einem anderen Zeitpunkt vorgesehenes Kind den Berufseinstieg der Mama verhagelt hat. Ich fühle mich deswegen nicht zurückgesetzt, ich habe auch kein schlechtes Gewissen deswegen. Ich sehe nur, wie groß der Einfluss auf das Leben meiner Mutter war. Für ihre Eltern und die Eltern meines Vaters war ganz selbstverständlich, dass meine Mutter zuhause zu bleiben hatte und sich um die Kinder kümmerte. Sie stieg erst ein, als etwa 15 Jahre später meine Schwester und ich beide in unseren Teenager-Jahren waren. Ich würde gerne sagen, heute ist das völlig anders. Freilich, es IST anders. Aber an der Aufgabenverteilung in Familien mit Kindern hat sich wenig geändert, sondern vor allem an dem Druck, was die Mütter neben allen Aufgaben, die sie als Hausfrauen und Mutter früher tun sollte, eben zusätzlich noch tun sollen – Arbeiten, erfolgreich und sportlich sein… Zwei meiner Freundinnen kämpfen mit diesem Problem, die eine zuhause, die andere mit Job, bei beiden funktioniert das paritätische Verteilen der Aufgaben zwischen den Eltern nicht richtig.

Ich leite schon über. Denn ich habe keine Kinder, kann keine bekommen und habe mich auch in Abstimmung mit meinem Mann irgendwann Mitte 30 entschieden, dass wir nicht den Adoptionsweg gehen. Bei uns bin ich die Hauptverdienerin, ich arbeite voll, mein Mann hat reduziert und kümmert sich mehr um den Haushalt als ich. Wäre das mit einem adoptierten Kind auch so? Ich weiß es nicht. Es ist immer anders, wenn’s wirklich ist, als wenn man es sich nur theoretisch überlegt.

Aber ich bin nicht nur die kinderlose Hauptverdienerin als Beamtin im Strahlenschutz. Ich bin auch auffällig. Es kennen mich fast stets mehr Leute, als ich im Gegenzug kenne, ganz oft muss ich nachdenken und erstmal forschen: „Wer könnte das sein, wo kenn ich diese Person her, die mich da gerade mit Namen gegrüßt hat?“ Ich rede mich gerne darüber raus, dass ich nicht besonders gut in Namen-Gesicht-Zuordnung bin. Aber tatsächlich besteht wohl eine Asymmetrie: Wesentlich mehr Leute wissen, wer ich bin, als ich umgekehrt Leute kenne. Warum das so ist? Nun… ich bin auffällig, wie eingangs dieses Absatzes geschrieben. Ich rede viel, erzähle über mich, kleide mich auffällig, habe mehrere Hobbies, die mich auffallen lassen. Ich könnte natürlich zur grauen Maus werden, aber das wäre nicht mehr ich. Also muss ich damit leben, dass Leute mich kennen, ich aber manchmal erst eine Weile brauche, um zu wissen, wer sie sind – oder manchmal auch schlicht zugeben muss, dass mich da jemand kennt, den ich nicht kenne.

Wer bin ich also, und wenn ja, wie viele?

Zunächst einmal ist die Antwort eindeutig „ja“. Auf die bedingte Frage, wie viele ich bin, muss ich natürlich wegen des „ja“ auch antworten. Diese Zahl ist ein bisschen unbestimmt.

Ich bin die, die dumme und ganz selten auch mal schlaue Wortspiele macht. Ich bin die, die über ihre eigenen Witze lacht, wenn’s sonst keiner tut. Ich bin die, die nach dem Absolvieren des Arbeitswegs auch mal (wenn es keinen Publikumsverkehr gibt) den Tag lang in Sportsachen im Büro herumhängt. Ich bin die mit den Nerdshirts, gerne mit Wonder-Woman-Logo auf der Brust, oder mit Star-Trek-Referenzen oder Schrödingers Katze. Alternativ bin ich die, die einen Turnanzug als normales Oberteil im Alltag unter VNV-Nation-Sweaterjacke oder auch mal unter Blazer trägt. Ich bin die, die ein komisches, nicht besonders erfolgreiches Buch geschrieben hat. Ich bin die Sportlerin, Bloggerin, Minecraft-Spielerin. Nicht zuletzt, alles andere als zuletzt bin ich die Mau vom Wolf, also die Frau meines Mannes – Mau und Wolf sind unsere Spitznamen füreinander.

Ich bin die eine, die viele ist. Ich bin die Borg… nee, halt, das war nun falsch.

Die Frage, wer ich bin, habe ich schon mehrfach hier gestellt. Es gab auch schonmal das gesungene Fragespiel zwischen Rachel House und Auli’i Cravalho: „Who am I? I am a girl who loves my island, and a girl who loves the sea – it calls me […] I am Vaiana!”, das ich als Symbol für die verwendet habe, die ich bin. Es tut mir gut, die Frage hin und wieder hier zu stellen. Meistens bekomme ich dafür ganz schrecklich positive Resonanz, wenn ich diese Fragen stelle und mir selbst beantworte. Vermutlich auch deswegen, weil durchscheint, dass ich (mittlerweile) das Selbstvertrauen habe, im Zweifel grinsend selbstironisch mit einer ebenfalls musikalischen Zeile zu antworten, nämlich mit Eminem (ohne mich mit „Without Me“ von ihm zu identifizieren, nur den Satz herausgegriffen):

„It’s just me, I’m just obscene!“

Ihr dürft gerne …

… über mich lachen, so lange ich mitlache, lachen wir gemeinsam.

Das ist ein Satz, den ich mir hart erarbeitet habe. Gestern habe ich den Satz mal wieder gesagt, als ich meine Kollegen trotz … oder vielleicht eher in Kompensation meiner Kopfschmerzen und dahingehend dumpfer Laune mit multiplen Wort- und Flachwitzen nervte. Da ging’s um die Fortpflanzung der Metzger … Eier natürlich, an den Brutstätten steht, was drin ist: „Metzger-Ei“. Es gab noch mehr, das mir nun nicht mehr einfällt. So lange ich mit euch lache, wenn ihr über mich lacht, lachen wir gemeinsam.

Das ist gar nicht so einfach für mich gewesen. Ich war in der Schule scheu, ein bisschen zu gut in der Schule, um trotzdem cool zu sein, verträumt und vor allem leicht zum heulen zu bringen. Dazu war ich ein bisschen anders, was ich erst in der Retrospektive so richtig verstanden habe. Natürlich wollte ich auch unbedingt dazu gehören. Allein sein unter vielen Leuten, die man täglich sieht, kann furchtbar sein. Je mehr ich an Spott abbekam, um so empfindlicher wurde ich. In Erinnerung ist mir deutlich, dass ich nach der Lektüre des „Was ist Was“-Bandes über Höhlen eine fiktive Höhlenkarte mit Eingängen in der Umgebung meines Heimatortes auf den Rand meines Heftes zeichnete. In der Pause schnappte sich ein Klassenkamerad das Heft und las zur Belustigung der Klasse und mit beißendem Spott meine Beschriftungen vor. Zu anderen Anlässen fragten mich Mitschüler immer wieder, immer drängender, unter Nennung meines Namens, wie ich hieße. Man kann einem Kind, einem Jugendlichen noch so oft sagen, dass man so etwas ignorieren soll. Es funktioniert nicht. Man will dazugehören, den Erwartungen entsprechen, und zugleich steht man damit vor einer unlösbaren Aufgabe, denn das Spiel mitzuspielen führt zu Demütigung, und mit der Neigung zu Tränen…

Die Nachwirkungen merke ich noch heute. Es ist einfach, mich zu verunsichern, dass ich nicht dazugehöre. Ich denke dann, ich habe etwas falsch gemacht. Ich misstraue Lob und nehme Kritik zu schwer, insbesondere unfaire, un- oder nur teilberechtigte Kritik kann ich nur ganz schwer an mir abprallen lassen und fühle mich allzuleicht mit Lob aufgezogen und mit Kritik persönlich abgelehnt. Eine Mobbing-Vergangenheit nennt man das wohl. Ich kenne das Gefühl gut und manchmal erkenne ich es auch, wenn ich von den spröden Reaktionen betroffen bin, die andere Mobbing-Opfer manchmal zeigen, wenn sie sich durch unbeabsichtigte oder eingebildete Angriffe meinerseits daran erinnert fühlen. Zum Glück wird das heute meistens von Gelassenheit und Selbstvertrauen aufgefangen.

Mitte bis Ende meiner Zwanziger kam ich langsam dahin, dass ich eines der zugrundeliegenden Probleme, die mich zu einem solch dankbaren Opfer machten, zu lösen begann. Aus dem unglücklichen Jungen wurde eine mindestens zufriedenere, bald glückliche Frau. Ich walze diese Entwicklung ungern aus – auch wenn sie wichtig für mich ist und meine Perspektive zum Teil definiert. Das Ganze vor sich herzutragen, macht’s nicht einfacher und es ist auch kein zentraler Kern dessen, was ich bin. Aber über diesen Wechsel bekam ich langsam mit, dass ich mich selbst mögen kann. Kunststück, sich zu mögen, wenn man nicht einmal merkt, dass etwas Grundlegendes nicht stimmt, aber es eben so ist, dass etwas Grundlegendes nicht stimmt.

Inzwischen bin ich durchaus manchmal laut, lustig oder vermeintlich lustig. Ich rate den Menschen, mich nicht zu ernst zu nehmen, ich täte das schließlich auch nicht. Dazu gehört eine Menge Mut und Selbstvertrauen, die mir lange Zeit abgingen. Begonnen hat es als Panzer gegen die Unsicherheit. Aber es war ein Mantel, der bald zur zweiten Haut wurde, als sei ich bereit dazu gewesen, in diese Attitüde hineinzuwachsen.

Und doch reizt es mich immer wieder, mit dem Anderssein zu spielen, die Grenzen des Muts auszutesten, den ich mittlerweile habe. Meine Gedanken, was ich gerne anziehe, wer ich bin, es fällt auf. Die Angst vor dem Ausgestoßensein, untermauert von den Erfahrungen des tatsächlichen gemobbten Außenseitertums, gepaart mit der eigenen Auffälligkeit, wenn ich mich nicht verstelle, sie sind noch da.

Und so gehört zu den schönsten Erinnerungen an meine Schulzeit jener Abi-Streich, an dem einer unserer Lehrer mit der Abi-Band BAPs „Verdamp‘ lang her“ sang und ich, Arm in Arm mit einigen meines Jahrgangs auf dem Schulhof im Takt hüpfte. Es waren da welche dabei, die weder zu meinen wenigen Freunden gehörten noch zu den etwas mehr, von denen ich mich gemobbt fühlte. Es waren einfach Leute, die nicht darüber nachdachten, ob ich so unberührbar war, wie ich mich fühlte. Es ist eine spontane Woge der Freude, des Wohlig-Warmen, wenn ich daran denke.

Damals war es noch viel häufiger so, dass ich, in einer Gruppe gut aufgenommen, schnell misstrauisch wurde. Wie konnte man mich aufnehmen, ohne Ironie und Spott dahinter zu legen, obwohl ich doch ich war? Heute habe ich dieses Gefühl nur noch selten, und wenn doch, überspiele ich es. Aber es ist noch da. Vermutlich geht das auch nie weg. Manchmal frage ich mich, ob diese Narbe in meiner Persönlichkeit vielleicht eher ein Orden ist, der mir geholfen hat, die zu werden, die ich bin. Aber eigentlich ist es nur mies, dass dieses Spiel mit der Furcht vor dem Alleinsein, diese Abhängigkeit von denjenigen, die die Schwächen anderer rücksichtslos zur Befriedigung ihres eigenen Egos benutzen, einen so lange prägen kann.

Eigentlich wollte ich diesen Beitrag „Verdamp‘ lang her“ nennen und damit anfangen, eben wegen der wohligen Erinnerung. Vielleicht ist’s besser gewesen, es nicht zu tun. Denn ich bin heute jemand anders – jemand, der mit einer gewissen Sicherheit anderen raten kann, mich nicht so ernst zu nehmen, ich täte es ja auch nicht. Jemand, der sich nur noch ganz selten panisch vor dem Ausgestoßensein fürchtet, wenn sie sich herauswagt.