Pride und Demut

Ich weiß nicht, ob es den Eindruck macht, dass ich ein Geheimnis draus machen würde. Eigentlich ist das nicht meine Absicht. Aber ich fühle mich normal, selbst wenn es um Themen geht, die… naja, mir meine Unvollständigkeit in mancher Hinsicht vor Augen führen.

Wenn es zum Beispiel um’s Kinderkriegen geht, oder um die Periode. Man mag mir sagen, dass das Erstere mir nicht möglich ist, solle ich bedauern, das Fehlen der Letzteren solle mich freuen. Aber es hilft nichts, das gehört zusammen, und da ich eine männliche Pubertät durchlebt habe, so falsch sich das auch anfühlte, ist beides außer Reichweite. Ich habe vielen Gedanken zu diesem Thema schon vor Jahren, als die AfD erfolgreicher wurde und als Donald Trump mit (neben vielem anderen auch) trans-feindlicher Agenda US-Präsident wurde, in einem Post Ausdruck verliehen. Das ist natürlich noch nicht alles, ganz ohne das Trans-Thema fülle ich (weiterhin ohne das Buch zu kennen, das ich in dem Post zitiere, und mittlerweile auch mit einem gewissen Widerwillen gegen den Autor) in einer Meditation über mich diverse Rollen teils oder ganz aus.

Nun lese ich in den Messages einer Freundin, dass es mit dem Selbstbestimmungsgesetz vorangeht und das freut mich. Mein Weg war anstrengend, ich bin ihn neben der Promotion gegangen, und das war hart. Wenn man in anderthalb Monaten medizinische Gutachten zusammensammelt, um eine OP bewilligt zu bekommen, und fast vier Monate nach Einreichen beim medizinischen Dienst der Krankenkassen nochmal zum Vermessen der Dinge, die man eigentlich loswerden will, zum Arzt geschickt wird, da das Gutachten ja „ein halbes Jahr alt“ sei, dann schlaucht das. Wenn der bürokratische Prozess daneben leichter wird, ist das ein Fortschritt. Die Hürden sind weiterhin hoch genug, und auch wenn das eine unbeliebte Meinung ist: Das ist auch gut so. Geschlechtsidentität ändern, selbst wenn man es unbedingt braucht, um zu überleben, ist ein hartes Ding. Zum Glück zeigen Zahlen aus Ländern, in denen der bürokratische Prozess des Änderns der Geschlechtseinträge einfacher sind, dass sich auch dort nicht mehr Leute auf diese Achterbahn bewegen, es nur für die, die es brauchen, außen leichter ist. Innen ist es, so überlebensnotwendig es auch sein mag, immer sauschwer.

Ich beende mal den impliziten Klammertext: Hier ist die Freude, der „Pride“-Moment. Yay für das Selbstbestimmungsgesetz!

Aber so einfach ist es natürlich nicht. Nicht nur die oft beschworenen, an vielen Stellen der „Pride“-Gemeinde verhassten „TERFs“, sondern auch andere Stellen wägen Schutzräume für Transpersonen und Schutzräume für Frauen gegeneinander ab. Und ich kann das auch verstehen! Der Welt-Leichtathletik-Verband hat diese Woche einerseits die „Lex Semenya“, also den Bann von zu hohen Testosteron-Werten bei einer bestimmten, als weiblich anerkannten Form von Intersexuellen auf der Mittelstrecke auf alle Disziplinen ausgeweitet. Testosteron wirkt ja tatsächlich leistungssteigernd und kurbelt das Muskelwachstum an. Es ist also verständlich, dass man für eine gewisse Zeit vor und auf jeden Fall zur Zeit des Wettkampfs im Elite-Bereich bestimmte Testosteron-Levels unterschritten haben muss, um im „Schutzraum“ für Frauen antreten zu dürfen. Auch körperliches Geschlecht ist ein Spektrum, und so schmerzhaft das ist, muss zum Erhalten eines Schutzraums die Grenze irgendwo im Spektrum gezogen werden. Im Zuge dieser Entscheidung wurde auch festgestellt, dass man mangels Elite-Athleten mit transsexuellem Hintergrund (der Welt-Leichtathletik-Verband schreibt „transgender“) keine Daten habe, ob es reiche, dieselben auf Testosteron-Werten basierenden Ausschlusskriterien auch für Transsexuelle auszusprechen, oder ob man die männliche Pubertät der wesentliche Faktor sei. Zur Klarstellung: Die Athletinnen wie z.B. Caster Semenya haben aufgrund des auch körperlich nicht immer ganz eindeutigen Geschlechts Drüsen, die Testosteron produzieren und – so genau habe ich das nicht verstanden – innen liegenden Hoden ähneln oder solche sind. Sowas haben Post-Op-Transsexuelle nicht. Daher hatte ich immer gedacht: „Hey, das betrifft mich alles nicht…“ Und nun bannt der Welt-Leichtathletik-Verband – genau wie der Welt-Schwimm-Verband – Transfrauen generell von Elite-Wettkämpfen. Man wisse halt nicht, ob’s an der männlichen Pubertät liegt oder an den Hormonen.

Ich kann das verstehen. Der Schutzraum für Athletinnen und deren Leistung betrifft VIEL mehr Leute. Seine Grenze sauber zu formulieren, und fair zu bleiben, ist nicht einfach, und wenn da eine Minderheit runterfällt, bis man mehr Daten hat, nimmt man das in Kauf. Schließlich haben die auch eine Kommission aufgesetzt, um zu prüfen, ob es mit den Hormon-Grenzwerten getan ist. Aber bis das geklärt ist, sind Transfrauen bei Elite-Wettkämpfen in der Leichtathletik raus. Ist halt ein bisschen blöd, wenn man selbst zu dieser Minderheit gehört…

Aber was der Verband schreibt, ist ja auch richtig: Der Schutzraum ist wichtig und auf Elite-Ebene gibt es derzeit keine Transfrauen. Mich schon gleich gar nicht, mit Meisterschaften habe ich nichts zu tun. Ich bin schnell, freilich, aber ich habe keine hohen Testosteron-Spiegel. Als ich vor der großen OP das letzte Mal sowas hatte, boah, die Aggression! Ich würd’s spüren und messen kann man es auch. Aber ich bin nicht so schnell. Zudem trete ich nur bei stadionfernen Events an, also bei Volksläufen, für die man keine Verbandszugehörigkeit braucht, bin Hobbyläuferin, keine Amateurin. Der deutsche Verband empfiehlt, bei solchen „stadionfernen“ Veranstaltungen die Inklusion oberstes Gebot sein zu lassen, während bei stadionnahen, Eliteveranstaltungen, die dann auch zu Meisterschaften führen und irgendwie eine Registrierung beim Verband oder einem Verein im Verband erfordern, wo also Amateure und Profis antreten, natürlich die Regeln für Elite-Leute gelten.

Es betrifft mich also nicht. Allerdings kann ich mir schon vorstellen, dass irgendwo irgendwer durch mein mit hartem Training systematisch erarbeitetes Tempo neidisch wird und dann wird es ein Thema, ob’s in meinem Falle auch auf die Ebene „stadionfern“ runter gebrochen wird. Seid gewiss, ich bin drauf gefasst. Aber so lange die Regeln erlauben, dass ich dort antrete, wo ich glaube, nur mein systematisches Training als Vorteil zu haben, werde ich das tun. Ich laufe für persönliche Bestzeiten, für die Überwindung meiner Grenzen, nicht für Platzierungen. Die machen Spaß, sind aber nicht meine Motivation. Hier also Demut, aber nicht zu viel.

Am Ende des Tages sind wir, wer wir sind. So lange die Regeln sind, wie sie sind, brauchen wir nicht vorauseilend gehorsam uns zurücknehmen. Aber wenn die Regeln da sind, wenn sie auf Fakten (oder auf Vorsicht wegen Unkenntnis und einer Abwägung der Konsequenzen) basieren, dann ist es an uns, zu helfen, Daten zu liefern. Wohl denen, die nicht laufen, schwimmen, radeln, anderen Sport tun, um andere auszustechen, sondern die das tun, um über sich hinaus zu wachsen, um ihrer selbst willen.

[KuK] Ist das noch…

…eine Gefährderansprache oder schon was anderes?

Gestern Abend auf der Heimfahrt von Lauftreffs und Training in Karlsruhe radelte ich die Ettlinger Straße in Karlsruhe runter Richtung Hauptbahnhof. Zwei andere Radfahrerinnen waren mir bewusst, plötzlich war da in der Gruppe auf dem Radweg ein viertes Rad neben mir und den beiden anderen Radlerinnen. Licht hatte das Rad nicht, zumindest nicht hinten, und irgendwie war mir nicht klar, wo der Radler herkam.

Dann überholte uns langsam ein Polizeifahrzeug, verlangsamte, und hielt den neu in die Gruppe dazu gekommenen an. Im Vorbeifahren hörte ich was von „kein Licht“ und „über Rot“. Nach kurzem Check von § 29 PolG gewinne ich den Eindruck, dass das nicht mehr einfach eine Gefährderansprache war, denn ordnungswidrig handelte dieser Mensch ja schon: Fuhr wohl über Rot und fuhr mitten in der Nacht mindestens ohne Rücklicht – ob er’n Frontlicht hatte, habe ich nicht gesehen.

Jedenfalls finde ich es gut, wenn die Polizei sowas anspricht. Ich finde nämlich, dass es allen Radlern schadet, wenn sich einzelne wie Berserker aufführen, rote Ampeln als Vorschläge und Licht bei Nacht als fakultativ ansehen. Ich lese oft, dass Radler angesprochen werden, warum sie keine Warnweste tragen oder keinen Helm – das ist aber alles kleine Pflicht. Rote Ampeln einzuhalten oder Beleuchtung auf nächtlicher Straße aber schon! Am Ende des Tages reagieren Autofahrer, die solche Radler erlebt haben, auf alle Radler, als wären die solche Berserker.

Und das ist gefährlich auch für mich.

Über Ziele

Trainieren heißt auch, Ziele zu haben und etwas zu tun, um diese zu erreichen. Das gilt für Sport genauso wie für andere Dinge. Ich habe festgestellt, dass Sport, bei mir das Laufen, mich vieles über sinnvolle und weniger sinnvolle Ziele gelehrt hat, auch darüber, wie man sie erreichen kann. Es gibt natürlich auch andere Systeme, die sich mit Zielsetzung und dem Management der Erreichung dieser Ziele befassen.

Ein Klassiker aus der Ausbildung für Führungskräfte ist die SMART-Methode. Ein Ziel soll folgende Kriterien erfüllen:

  • S wie spezifisch:
    Das Ziel soll spezifisch sein – also konkret und klar formuliert, so dass ich zu jeder Zeit, also auch in den Phasen, in denen ich selbst zweifle, ersehen kann, wo ich hin will und ob ich das Ziel erreicht habe.
  • M wie messbar:
    Am besten sind natürlich Ziele, bei denen man die Erreichung in Prozent angeben kann, die also quantitativ messbar sind. Allgemein sollte aber eine Messgröße – wie abstrakt sie auch sein mag – existieren, um die Erreichung des Ziels zu verifizieren.
  • A wie attraktiv:
    Lasst mich einen meiner liebsten Filme zitieren…
    „Wie bringt man eine Crew dazu, ein U-Boot zu verlassen?“ – „Wie bringt man eine Crew dazu, ein Atom-U-Boot…“ – „Sie muss da raus WOLLEN!“
    Wenn das Ziel nicht attraktiv ist, werde ich nicht motiviert sein. Ob nun der wünschenswerte, der attraktive Effekt die Vermeidung von schlechten Dingen bei Nicht-Erreichen oder die Belohnung für’s Erreichen ist, ist erstmal egal. Attraktiv wird das Ziel, weil es mir persönlich einen wünschenswerten Vorteil gegenüber der Nicht-Erreichung gibt.
  • R wie realistisch:
    Ich sage manchmal, ich scheitere oft an meinen Ansprüchen. Genau das Gegenteil ist ein gesundes Ziel. Ziele sind nur dann gute Ziele, wenn man sie auch erreichen kann – am besten, wenn man Kontrolle über ihre Erreichung hat. Natürlich ist es attraktiv, messbar und spezifisch, einen Weltrekord zu erzielen oder viel Geld zu gewinnen, aber realistisch ist es nicht (also zumindest für mich).
  • T wie terminiert:
    Es muss klar sein, wann das Ziel zu erreichen ist. Wenn das Ziel nicht mit einer Deadline versehen ist, wird es manchmal schwierig, die Erreichung hinreichend strebsam zu verfolgen. Allerdings muss man an dieser Stelle vorsichtig sein – auch die Terminierung muss realistisch sein, und zwar im Kontext aller anderen Ziele, die man erreichen möchte und muss.

Ich habe dieses Konzept schon oft erzählt bekommen, da ich Führungskräfteseminare mitmachen durfte/musste. Seltsamerweise erscheint es „logisch“, dass Personen, die in der Wissenschaft einen Doktortitel erworben haben, Führungskräfte sein sollen, können und wollen, weswegen sie auf solche Seminare geschickt werden. Das ist ein spannendes Thema für sich, da der Doktortitel (sofern es kein „h.c.“-Doktor ist) vor allem etwas über die Befähigung zum selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten aussagt, nicht aber über die Führung eines Teams – weder über den Willen noch über die Befähigung hierzu. Aber lassen wir uns nicht auf Abwege bringen.

Hmm… einen Abweg habe ich noch! Ich verspreche, ich verfolge ihn nur kurz. Das obige „SMART“e Ziel ist nur dann ein SMARTes Ziel, wenn es ALLE Kriterien erfüllt. Viele Ziele, die einem im Arbeitskontext vorgespielt werden, sind nur SMT. Realismus und Attraktivität (bzw. Sinnhaftigkeit) der Ziele stehen oft in Frage, insbesondere im Kontext der konkreten Terminierung. Dieses Haushalten – und damit verlasse ich diesen Abweg – wird einem beim Sport sehr deutlich vor Augen geführt, denn wenn man sich für etwas, das nix bringt und wohl auch nicht gut geht, die ganze Zeit quält, kommt nix bei raus – außer vielleicht eine Verletzung und eine Menge Frust.

Somit sind wir zurück beim Sport, der mir etwas über Zieldefinition, Streben nach der Zielerreichung und Zielqualität beigebracht hat. Darum geht es auch in dem Büchlein Mentaltraining im Ausdauersport von Constantin Doll, neben einigen anderen Aspekten. Trainingsplanung atmet sehr viel von Zieldefinition und Zielerreichung – hier beziehe ich mich auch ein bisschen auf Peter Greifs Buch „Greif – for running life“. Im (Lauf-)Sport haben wir eine recht komfortable Situation: Zeit, Strecke, Geschwindigkeit lassen sich hervorragend messen. Auch die Reihenfolge des Zieleinlaufs lässt sich hervorragend messen, aber dazu komme ich gleich noch. Das „M“ bei den SMARTen Zielen ist also kein Problem. Somit wird’s halbwegs einfach, auch das „S“, das Spezifisch-Sein, mit abzufrühstücken. Die Kunst liegt nun in „ART“, und irgendwie gefällt mir dieses Wortspiel schon jetzt sehr gut.

Was ist attraktiv im Laufsport? Genau das, was Ihr jetzt denkt, ist die Denke der meisten Leute: Oben auf einem Treppchen stehen, gewinnen! Attraktiv ist das auf jeden Fall! Ich merke es immer wieder, wie sehr die Attraktivität eines Sieges (insgesamt, in der Geschlechtsgruppe, in der Altersklasse) die Wahrnehmung von Laufergebnissen beeinflusst. Verdammt, es ist hammercool, oben auf einem Treppchen zu stehen, hab‘ ich bisher zweimal bei Läufen insgesamt (bei den Frauen) geschafft – 2019 beim Campus Run der Uni Stuttgart und 2022 bei der Bergdorfmeile. Attraktiv ist das – aber das ist nur das „A“ in der Kunst.

Realismus und Terminiertheit setzen einen wesentlich engeren Rahmen, der Siege oder Platzierungen als valide Ziele von vorne herein disqualifiziert. Denn realistisch betrachtet, ist bei einem konkreten Wettkampf (terminiert) oder bei irgendeinem Wettkampf (nicht terminiert) meine Platzierung nicht nur von meiner Leistung abhängig, sondern von der An- oder Abwesenheit anderer, stärkerer oder schwächerer Läuferinnen und Läufer abhängig. Siegen, Vorweglaufen, das kann ich situativ zur Motivation benutzen. Ich kann auch situativ sagen: Ich möchte eine bestimmte Arbeit schneller hinbekommen als die Konkurrenz. Aber was die Konkurrenz beim Laufen oder auf der Arbeit oder sonstwo tut, kann ich nicht kontrollieren. Ich habe keinerlei Handhabe über Terminiertheit und Realismus eines Sieges. Zu sagen, mein Ziel ist es, „schneller als XY“ zu sein, sofern XY nicht ich selbst zu einem bestimmten, weniger gut trainierten Zeitpunkt ist, erlaubt keinerlei Kontrolle über die Erreichbarkeit des Zieles.

So, das hätten wir also. Ein Sieg ist kein „SMART“es Ziel. Ein Ziel, das nicht „SMAR“ ist, wird kein Stück besser, bloß weil es terminiert ist, auch außerhalb des Laufens. Daher bin ich inzwischen der Meinung, wir sollten uns auf das konzentrieren, was wünschenswert und durch uns selbst kontrollierbar ist. Natürlich dürfen wir die zweite Bedeutung das „A“, die ich oben großzügig übergangen habe, nicht aus den Augen verlieren. Ein Ziel, das nicht auch ambitioniert ist, ist es nicht wert, ein Ziel zu sein.

Am Ende des Tages liegen wir also für ein SMARTes Ziel bei etwas, das wir selbst kontrollieren können, das einen Mehrwert bringt, das wir messen und beziffern und klar verstehen können und das wir zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen WOLLEN und auch KÖNNEN. Ganz typische Ziele sind nun also…

  • Auf einem bestimmten Wettkampf oder in einem bestimmten Zeitraum auf einer bestimmten Strecke eine bestimmte Zeit zu unterbieten. Es ist nicht nur valide, was ich diese Saison getan habe
    „Regensburg-Marathon 2023 am 21.05.2023 in 3:05 laufen.“
    Das ist EINE Variante eines validen Sport-Ziels. Die andere Variante habe ich auch schon ein paar Mal genutzt, so zum Beispiel:
    „Im Jahr 2019 auf der Halbmarathon-Distanz die 90 Minuten unterbieten.“
    „Bevor ich 50 werde auf der Marathon-Distanz die drei Stunden unterbieten.“
    Das sind valide Ziele, sofern sie realistisch sind – anhand meiner Vorleistungen denke ich, dass das letztere realistisch ist, das erstere habe ich bereits im Mai 2019 erreicht gehabt, und somit war es wohl realistisch.
  • Ein bisschen komplizierter, aber nicht minder SMART wird’s bei etwas anders gestrickten Zielen. Ich setze mir zum Beispiel jedes Jahr das Ziel, im Jahresdurchschnitt 20 Kilometer pro Tag zu radeln und 10 Kilometer pro Tag zu laufen. Messbar ist das auf jeden Fall, spezifisch auch, realistisch ist es nur, wenn ich nicht krank werde – Abhilfe schafft an dieser Stelle, dass ich Kranktage herausrechne und das Ziel als „10 Kilometer Laufen pro Tag, den ich nicht krank bin, im Jahresschnitt“ umformuliere – und am Ende des Jahres rechne ich ab, terminiert isses also. Aber attraktiv? Für mich schon. Ich stehe auf Zahlen. Für andere vielleicht nicht. SMART liegt also im Auge des Betrachters. Ähnlich verhält es sich beim Streak-Running, das wiederum ist für mich nicht attraktiv genug.
  • Richtig spannend wird es bei anders gearteten Zielen im Sport. Ich habe das Laufen ursprünglich angefangen, um weniger krank (durch wetterfühlige Kopfschmerzen) zu sein. Das ist spezifisch, es ist auf jeden Fall attraktiv, realistisch ist es bei meiner Art von Kopfschmerzen auch. Die Terminierbarkeit ist ein Problem, und messbar… tja, an dieser Stelle kommt Kreativität ins Spiel. Ich kopple mein Trainings- mit meinem Schmerztagebuch. Läuft! Mindestens SMAR ist das Ziel, aber die Terminiertheit ist eher so’n sliding window.

Kommen wir zu einem „verzögerten Lemma“, nämlich zu SMARTen Zielen und Peter Greif. Da kann ich Euch eine ganz spezifische Begründung geben, warum ich die Marathon-Zielzeit in Peter Greifs Countdown als überaus smartes Ziel ansehe, warum ich die Messbarkeit und den Realismus hier gut abgebildet finde: Bei Greif ist das Marathonrenntempo, gerne als MRT abgekürzt, die Seele des Plans. Tempodauerlauf, Endbeschleunigung und die Intervalle in den letzten zwei Wochen vor dem Marathon laufe ich alle im MRT. Der ganze Plan zur Erreichung des Ziels atmet eine Eigenschaft des Ziels, ich habe das Gefühl für das Ziel bis auf in der Tempotreppe JEDES Mal in den Beinen, im Kopf, auf der Uhr, wenn ich Tempo mache. Messbar und spezifisch sind hier sehr deutlich realisiert, und wenn ich mich dem Plan unterwerfe, wird der Realismus des Ziels recht schnell aufgezeigt, in die eine oder andere Richtung.

Die Sache mit „Platzierungen sind keine guten Ziele, Zielzeiten schon“, die Sache mit der Kontrollierbarkeit habe ich aus Mentaltraining im Ausdauersport. Tja, und nun die Übertragung ins andere Leben… viele Ziele, die von Führungskräften gesetzt werden, lassen die Attraktivität für diejenigen, die sie erreichen sollen, deutlich vermissen. Man glaubt oft, die Attraktivität für den, der dafür ackert, durch Druck, durch enge Terminiertheit kompensieren zu können, und tötet dann auch noch den Realismus. Oft wird auch recht vage formuliert. Aus dem Ausdauersport habe ich gelernt, solche Ziele, die es an Konkretisierung, an Attraktivität (weil sie willkürlich sind und keinen Mehrwert an sich haben) oder an Realismus mangeln lassen, zu identifizieren.

Die Defizite bei Zielen im Berufsleben betreffen oft eher SAR (Spezifischsein, Attraktivität und Realismus, wobei mir prompt Search And Rescue) einfällt, im Sport hadern wir dann doch eher mit der Kunst (Attraktivität, Realismus und Terminiertheit zu verbinden). Und ich frage mich gerade, ob ich die ganzen Klammern, die ich mit diesem Text aufgemacht habe, nun wieder zu bekommen habe.

Steile Thesen

Als ich gestern nach kurzer Vorbereitung daheim mit dem Rad in Richtung eines Außendienstes unterwegs war, gingen mir einige Dinge – zum Glück nur nicht-physische – durch den Kopf. Unterbrochen vom Ärger über das Zustellen des Radweges hinter der Messe Karlsruhe durch irgendwelche motorisierten Fahrzeuge formierte sich langsam eine Idee. Inspiriert ist das Ganze von den Newton’schen Axiomen, die ja im englischsprachigen Raum zu diversen Dreieinigkeiten von Axiomen, Regeln oder Gesetzen, die nach ihrem jeweiligen Urheber benannt sind, geführt haben. Für mich begann das Gedankenspiel, dessen Früchte ich hoffe, hier aufzuführen, mit dem dritten Clarke’schen Gesetz, welches bekanntlich besagt, dass hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden ist. Nun formierte sich in meinem Kopf der Gedanke, dass in hinreichend gesunden Lebensstil Pendel- und Besorgungswege von niedrigintensivem Training (low-intensity training, LIT) nicht zu unterscheiden seien.

Ich habe mich bemüht, das Ganze nicht so drastisch zu formulieren, wie ich das manchmal tue… zum Beispiel in Form der Adaption des „Cobra-Kai-Mottos“ zu „Train hard, Run fast, no Excuses“, oder in Form des Satzes, den ich immer wieder gerne zitiere: „Radfahren ohne Sensoren ist möglich – aber sinnlos“. Letzteres geht natürlich genauso für’s Laufen. Das sind freilich SEHR steile Thesen. Leider sind auch die folgenden drei Gesetze oder Axiome von einer Art, die als eher radikal betrachtet werden wird. Ich glaube aber tatsächlich, dass wenn man es versucht, man dieselbe Erfahrung macht wie ich: lange Zeit ausschließlich mit dem Pendeln beschäftigt zu verbringen, selbst im Stau noch Konzentration für’s Auto aufbringen zu müssen, sich im Auto und am Schreibtisch nur den Hintern platt zu sitzen und die körperlichen Fähigkeiten nicht (sanft, ggf. unterstützt) zu nutzen, lässt auf Dauer körperliche Fähigkeiten verkümmern, Krankheiten aufkommen und unglücklich werden. Daher habe ich die folgenden Gesetze für Pendeln bzw. Mobilität formuliert. Sie sind nicht so griffig, wie ich es mir wünsche, weil ich sie nicht radikal formulieren wollte. Sie sollen tauglich sein, um sich daran zu orientieren, selbst wenn man eben nicht „so eine Sportskanone“ wie ich ist, selbst wenn die Pendelstrecke etwas länger ist oder man durch bergige Struktur der Umgebung auf Unterstützung der Muskelkraft angewiesen ist.

  1. Pendelstrecken, die zurückzulegen einen nicht unwesentlichen Anteil des Tages einnimmt, ohne dabei Gelegenheit zu anderen, gesunden oder produktiven Tätigkeiten zu bieten, sind auf Dauer ungesund.
  2. Den Körper über eine (Pendel-)Strecke zu bewegen, sollte erfordern, zumindest einen Teil der dafür nötigen Energie durch Muskelkraft aufzubringen und sich außerhalb von geschlossenen Räumen aufzuhalten.
  3. In einem hinreichend gesunden Lebensstil sind Pendel- und Besorgungswege zumeist von niedrigintensivem Training nicht zu unterscheiden.

Nun bin ich mal gespannt, wie es sich entwickelt, mit diesen drei Thesen, Gesetzen oder Axiomen…

Es entsetzt mich…

…dass vor den Augen der Welt immer noch und weiterhin Krieg gezielt gegen die Zivilbevölkerung möglich ist, solange man nur keine Atombomben einsetzt.

Mir ist bewusst, dass es nie aufgehört hat, nur eben ein bisschen weiter weg von mir war. Es macht mich nicht stolz, absolut nicht, dass es erst in die Ukraine kommen musste, damit ich es (nach dem Zerfall Jugoslawiens vor über 20 Jahren) wieder so präsent in meinem Entsetzen wahrnehme.

Ich glaube, „wir“ hatten gehofft, dass es nachlässt. Dass es nach dem Zerfall der Sowjetunion, dem Mauerfall immer weniger wird. Für mich waren 1989 bis 1991 eine Zäsur der Hoffnung, und diese Hoffnung war, dass trotz all der Nachwehen, wie eben im ehemaligen Jugoslawien (ob das nun in Kroatien, Bosnien, im Kosovo oder was ich auch immer nicht ganz präsent habe) weiter abflaut, sowohl akut als auch in der Bedrohungslage. In Ruanda, Venezuela, Myanmar war’s weit weg und man konnte sich der Illusion hingeben, dass es auf Staaten gegen sich selbst begrenzt blieb – oder eben auf nicht-offizielle Stellen, wie eben Terroristen. Dass man sich verstecken muss oder zumindest so nachhaltig zum Paria der Welt wird, wenn man es doch tut, dass sich keiner, der an Macht wirklich interessiert ist, eine solche Sache traut.

Vermeintliche Brandmauern gegen den Verlust einer rosigen Illusion, dass nach Hitler, Stalin, Mao und all den – von ihrer Macht und ihrem Zugriff auf Truppen und Bevölkerung kleineren – anderen die Ära der Barbarei mit modernen Mitteln zu Ende war oder zumindest zu Ende ging.

Es entsetzt mich. Denn es ist nicht vorbei. Der Mensch hat nicht dazu gelernt. Wir lassen immer noch Mächtige nach oben kommen und an der Macht, wählen sie teils sogar, weil sie stark sind und unsere Interessen vertreten, die dann über Leichen gehen – über viele Leichen und noch mehr Leid. Wir lassen zu, dass die, die wir mächtig machen, diese Monster gewähren lassen und einfache Leute in eine Situation stürzen, in der sie Täter oder Opfer sein können, und Täter früher oder später die Gelegenheit bekommen, die Opfer nicht mehr als Menschen zu sehen, sondern als Objekte. Als Verfügungsmasse.

Was ist nur los mit dem Menschen?

Nostalgie

Das Leben ist eine seltsame Sache.

Da kommt man aus einem Sommer, der „außen“ unheimlich heiß und trocken war. Das ist einerseits ein Zeichen für Klima… Wandel? Krise? Katastrophe? – wahrscheinlich von allem ein bisschen, und mehr vom Schlimmeren. Andererseits ist warm bis heiß und trocken, zumindest mit nächtlicher Abkühlung, rein von dem, was mein Körper und mein Geist abgetrennt von „Wahrnehmung der Entwicklung in Natur und Klima“ mögen, genau mein Ding. Es wäre also ein Sommer gewesen, in dem ich gerne Sport getrieben hätte, im Freibad gelegen hätte, einfach die trockene Hitze genossen hätte. Aber am Anfang der Phase hatte ich Covid, brauchte wie erwartet etwas länger, mich davon zu erholen, dann brach ich mir den Finger, schließlich kämpfte ich noch mit Zahnschmerzen. Dazu nimmt meinen Geist ziemlich ein, dass ein weiteres Tabu gebrochen wurde: Krieg zur Grenzverschiebung in Europa. Stück für Stück wurden Gewissheiten, die im kalten Krieg und auch in der Zeit danach herrschten, in den letzten dreißig Jahren erodiert: Krieg wird weniger – nein, mehr. Krieg in Europa gibt’s nicht mehr – doch, schon lange wieder! Autokratien und Diktaturen sind auf dem Rückzug – nicht anderswo, in Europa auch nicht mehr. Selbst in der EU sind Gewaltenteilung, Pressfreiheit und breite Zustimmung für die liberale Demokratie mit mindestens drei verschiedenen, institutionell getrennten Gewalten, vor denen jeder Mensch gleich ist, nicht mehr breiter Grundkonsens: In einigen Ländern erodieren Regierungen diese Grundsätze, in anderen behaupten oder „fühlen“ gar nicht mal so kleine, in jedem Falle aber sehr laute Gruppierungen, dass sie in Diktaturen leben würden, obwohl dem keineswegs so ist. Dazu ist nach bald drei Jahren weltweiten Lebens mit vermutlich nur der ersten unter vielen superansteckenden Zoonosen, nach immer mehr an Fahrt gewinnender Klimakatastrophe und zunehmend isolationistischen, nationalistischen und antiliberalen Entwicklungen weltweit der Optimismus aufgebraucht, der Verteilungskampf wird verschärft, die Kombination aus Kapitalismus und Agenda lässt uns alle spüren, dass die Bettdecke jeden Tag ein bisschen kleiner wird und es weniger denn je in unserer Hand ist, dass wir nicht irgendwann im Kalten liegen. Versteht mich nicht falsch: In diesem Verteilungskampf haben die, die unsere Gasspeicher gekauft und leerlaufen gelassen haben, den ersten Stein geworfen, den Wirtschaftskrieg haben wir nicht begonnen. So wie Panzer in der Osteuropäischen Ebene nicht zuerst Richtung Osten, sondern zuerst Richtung Westen gerollt sind, sind die wirtschaftlichen Angriffe, mit langfristiger strategischer Vorbereitung, nicht vom Westen ausgegangen. Aber sie treffen alle – Verteidiger wie auch Angreifer.

Gleichzeitig ist auch im Kleinen vieles los: Unvorhergesehenes, zum Teil Schönes, zum Teil nicht so Schönes lässt mein direktes Umfeld, Dinge, mit denen ich mich Drittel meines Tages herumschlage, hektischer, konfrontativer, schriller werden.

Ich hänge der Vergangenheit nach. Den – wohl verklärten – 90ern, in denen man sich der Illusion hingeben konnte, dass Handel und Zusammenarbeit die Armut irgendwann wegspülen werden, dass gegen die Verbreitung der drängendsten Infektionskrankheit ein Kondom hilft, dass jeder in der Zukunft mehr dürfen wird, und sich weniger drum scheren wird, dass man selbst zu sein kein Privileg der reichen, weißen, cis-heterosexuellen, gebildeten Menschen mit aus Sicht der Vorgeneration „normalem“ Musik-, Kunst- und Arbeitsgeschmack sein wird. Dass sich die Menschen freuen, was sie dürfen, und sich nicht darüber definieren, dass sie mehr dürfen als andere. Erinnert Ihr Euch an „Love Message“ von einer ganzen Reihe von Eurodance-Projekten?

Vor kurzem habe ich auf Twitter erfahren, dass ich zur späten „Generation X“ gehöre, keine „Boomerin“ bin und auch nicht Gen Y. Zu einer Generation, die erstmals Zweifel hatte, dass es nur bergauf geht, zu einer Bevölkerungskohorte in Westeuropa, die Krieg nur aus dem Fernsehen kennt. Als Kind glaubte ich, das riesige, ohne Grenzen dargestellte Gebiet, das auf den Karten des furchtbaren Krieges in der Tagesschau dargestellt wurde, müssten die USA sein, da ja eigentlich USA, Iran und Irak die einzigen Nationen waren, die in diesen Sendungen genannt wurden. Als Kind habe ich Grenzen kennen gelernt – die nach Österreich fühlte sich „zivilisiert“ an: Ausweis vorzeigen, bisschen warten, vielleicht noch sowas wie Zoll und Währungsumtausch, gut war. Von Österreich nach Ungarn war da schon etwas krasser. Die Innerdeutsche, das war bedrückend. Auf der einen Seite meine Heimat, auf der anderen Seite Menschen, die aus Angst vor Gefängnis selbst bei neutralen Äußerungen die Stimme senkten. Sie hatten nicht Angst, dass ihnen widersprochen würde – nein, sie hatten Angst, dass man sie holte, internierte, wenn sie bestimmte Dinge sagten, die jeder wusste. Dazwischen eine Kombination aus Panzersperren, Stacheldraht, bewaffneten und aus Prinzip unfreundlichen Grenzern, aus Schikane und Angst. Wenn ich heute Leute höre, die von Diktatur reden, denke ich an die DDR- und Zonengrenz-Erfahrungen meines sechs- bis zehnjährigen Ichs und zucke die Schultern. Wenn ich daran denke, wie geschockt, wie angstvoll etliche meiner jüngeren Kollegen auf zwei Überschallknalle reagierten, ich nur dachte: „Hups? Explosion auf einem Schrottplatz wäre nicht gut, hoffentlich sind’s übende Kampfflugzeuge.“… es waren zwei Eurofighter. Als ich in die Grundschule ging, zertrampelten französische Soldaten meiner Mutter den Vorgarten, standen die Bauernhöfe auf den Feldern hinter dem Haus voller Panzer, beim NATO-Brückenkopfmanöver am Neckar, Überschallknalle waren während und auch abseits des Manövers etwas, das man kannte, genau wie Kampfflugzeuge am Himmel.

Ich möchte niemandem vorhalten, über die aktuellen Entwicklungen zu Krieg, Unsicherheit, wirtschaftlichen Abschwungs bestürzt zu sein, Angst zu haben, nach Lösungen zu rufen, obwohl man selbst nicht weiß, wie das gehen soll. Aber bloß, weil wir privilegierten, abgeschotteten „Westler“ im westlichen Mitteleuropa, in Westeuropa und Nordamerika für dreißig Jahre Ruhe davor hatten, heißt das nicht, dass die Methoden, die im Rest der Welt nie aufgehört haben – Repression, Krieg, echte Zensur, nicht nur Widerspruch gegen abseitige oder weniger abseitige Meinungen, Gewalt gegen Andersdenkende, -aussehende, -fühlende – die Lösung sind, oder dass sie bei uns schon da sind, bloß weil wir merken, dass sie anderswo nie aufgehört haben.

Aber es macht mich fertig. Mein Sommer war nicht so gut, ich konnte den Sommer nicht genießen, gleichzeitig stürzt die Welt in die Krise und viele Menschen in meinem Umfeld glauben, dass sie nicht mehr frei sagen dürfen, was sie wollen, nur weil ihnen widersprochen wird, dass unsere Freiheit nicht in Wirtschaft und auch auf dem Schlachtfeld verteidigt wird, sondern wir den Aggressor angegriffen hätten – der unsere Gasspeicher gekauft und leerlaufen lassen hat, um uns erpressen zu können, der Panzer über eine Grenze hat rollen lassen. Weltschmerz nennt man das, oder?

Nun wurde mein Vater, der letzte meiner Familie, dessen Leben mehrheitlich vor der großen Zäsur des späten 20. Jahrhunderts verlief, am Mittwoch 70 Jahre alt. Wir schenkten ihm eine Ballonfahrt, was meine Schwester und ich mit ihm schon einmal gemacht hatten – vor vielen Jahren, ich kann Euch gar nicht sagen, ob vor oder nach dem Mauerfall, ob vor oder nach dem Zerfall der Sowjetunion. Irgendwann zwischen 1987 und 1992 fuhren meine kleine Schwester, mein Vater und ich Ballon, unser Ballonführer (ich glaube, so nennt man ihn) funkte demonstrativ über dem Odenwald unsere Position „drei Meilen südlich von Korsika“, meine Ballonfahrer-Taufe habe ich in Erinnerung, die Urkunde habe ich nicht mehr. Dreißig Jahre später sehe ich Bilder von meiner Mama, von meinem Papa auf die Wand projiziert, bei der Übergabe des Geschenks, höre ein Lied, das meine Mama mir schmackhaft machte – sie ist seit 16 Jahren tot. Harpos „Movie Star“ ist vier Jahre älter als ich. Mama mochte es sehr. Am Mittwoch spielten sie’s, während wir ausgelassen, aufgedreht zusammensaßen, um den 70. meines Vaters zu feiern.

Seit dem drehe ich mich um mich selbst. Denke an frühere Zeiten, an wohlig-imaginierte Geschichten, die ich mit meinem besten Freund zusammen geteilt, „bespielt“ habe. Teils habe ich Grundlagen dieser Geschichten geschrieben, um den Tod meiner Mutter zu verarbeiten. Eskapismus in Phantasiewelten, parallel Musik aus Zeiten, die scheinbar besser, einfacher waren – aber ob’s so viel besser war, in den Kalter-Krieg-80ern, den unsicheren 90ern, den Nach-9/11-Nullern, den Nach-Lehman-Brothers-Zehnern? Glaub‘ nicht, ich glaube eher, wir verklären das.

Jedenfalls hänge ich den Dingen nach. Betreibe Eskapismus. Vielleicht auch, weil’s Herbst wird.

Steile These: Wir sind betrogen worden

Es begann bestimmt viel früher. Aber ich möchte mich im Interesse der Verständlichkeit des Punkts, den ich machen möchte, begrenzen. Also beginne ich Ende der „Nuller-Jahre“, also kurz vor 2010. So manche Deutsche und so mancher Deutscher sah damals schon klarer als ich damals, dass nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt in ein riesiges Klima-Problem, eine Klima-Krise, eine Klima-Katastrophe hinein steuerten oder eigentlich schon mittendrin waren. Auch weltpolitisch war die Hoffnung auf Frieden und ein „Ende der Geschichte“, die auf die Auflösung der Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung zumindest in meinen Augen, zumindest in Deutschland folgten, schon längst wieder dahin: Alle Staaten, auch die westlichen, stellten sich der Sicherheitslage, die durch den 11.09.2001 grundlegend verändert erschien, es natürlich auch war und ist, sich aber nicht so plötzlich änderte.

Nach Schröder war in Deutschland Merkel gekommen, und in so mancher Hinsicht war Rot-Grün antifossil und antiatom gewesen, Schwarz-Rot wie auch Schwarz-Gelb das Gegenteil. Wir hatten Laufzeitverlängerung, aber kein grundsätzliches Abrücken vom Atomausstieg, also keine Änderung von § 1 AtG „Zweckbestimmung“:

Zweck dieses Gesetzes ist,

1. die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität geordnet zu beenden und bis zum Zeitpunkt der Beendigung den geordneten Betrieb sicherzustellen,

§ 1 Nummer 1 AtG

Ideen wie fünf Mark für den Liter Benzin waren mit CDU-geführten Regierungen vom Tisch, und letztlich war das damals nur recht verunglückte Kommunikation im Wahlkampf der Grünen, denn wir sind inzwischen in diesem Bereich angekommen – ganz ohne zusätzliche staatliche Aufschläge, einfach wegen Erzeuger- und Weiterverarbeiterpreisen und -profiten.

Fakt ist, dass wir damals wie heute fossile Kohlenwasserstoffe zu nicht unwesentlichen Anteilen aus Staaten bezogen, die bezogen auf unsere politischen Werte fragwürdig waren und sind. In Russland, Stichwort „lupenreiner Demokrat“, wollten wir das nicht sehen oder hingen „Handel durch Wandel“ an. Dieses Konzept war auch damals schon sowas von „Neunziger“: Geprägt von einer falschen, überbordend optimistischen, trügerischen Hoffnung, dass nach Ende des Kalten Krieges schon alles gut werden würde.

Aber ich schweife doch ab. Worauf ich hinaus wollte: Das Konzept der verschiedenen Merkel-Kabinette war, die viel Aufregung auslösende EEG-Umlage gering zu halten, länger nuklear zu bleiben und mit Feigenblättern die fossilen Energien zurückzufahren. Probleme wie Stromtrassen vom windreichen Norden in den energieverbrauchenden Süden, Speicherung von regenerativ erzeugter Energie z.B. durch „smarte Netze“, ziemlich unattraktive Pumpspeicher oder wolkige Ankündigungen von „Wasserstoff und regenerativ auf Wasserstoff und atmosphärischem CO2 erzeugtem Methan/künstlichem Erdgas“ blieben wolkig. Man hatte ja die Kernkraftwerke…

So weit, so gut. Dann kam Fukushima und – ganz unabhängig davon, was das Tohoku-Erdbeben, der Tsunami und die Havarien der Reaktoren in Fukushima im Lichte der Sicherheit von deutschen Kernkraftwerken wirklich bedeutete – Anti-Atom hatte Oberwasser. Die Landtagswahl in Baden-Württemberg brachte Panik. Also beschloss man den beschleunigten Ausstieg, verabschiedete sich von Restlauf-Strommengen, legte einige Kernkraftwerke direkt still und ließ die anderen bis zu festen Zeiten weiterlaufen, egal, wie viel Strom bis dahin gemacht worden wäre. Die dadurch entstehende Lücke sollte mit Ausbau der erneuerbaren Energien gefüllt werden, aber halt nicht schneller als zuvor. Betrugspunkt 1: Wir behaupten, der Ausbau der Erneuerbaren geht nun schneller, aber sobald man das im Geldbeutel merken würde… haben wir Angst um unsere Wiederwahl. Also machen wir’s nicht. Versorgungssicherheit ist aber kein Problem. Man beschwichtigt die Anhänger von billiger oder sich nicht zu stark verteuernder Energie einerseits und versucht, die Anti-Atom-DNA der Grünen nicht so zu bedienen, dass sie noch mehr Bundesländer mit- oder gar führend regieren.

Der wesentlich bedeutendere Knackpunkt in meinen Augen kommt aber danach. Die Antwort auf „keine Pumpspeicher, weil Öko-Sauerei“, „Strom großtechnisch mit Akkus speichern is‘ nich'“ und „Erneuerbare machen nicht nur keine Lastfolge, sondern sind ggf. sogar gegenläufig zur Last aktiv“ war… Gas. Warum Gas? Einerseits sind Gaskraftwerke schnell hochgefahren. Dass Siedewasserreaktoren, mit ca. 50 % ihrer Leistung als Grundlast gefahren, auch sehr schnell auf 100 % ihrer Leistung hochgehen können (Stichwort: Umwälzpumpe), geschenkt. Warum also Gas, abgesehen davon, dass Gaskraftwerke sehr schnelle Transienten von Null auf Hundert fahren können? „Wir können die Infrastruktur nutzen, wenn wir künstliches Erdgas aus Wasserstoff und Kohlendioxid machen!“ – „Wann?“ – „Innovation!“ – „Und bis dann?“ – „Russisches Erdgas. Und Biogas!“ – „Wie viel Biogas?“ – „Innovation!“

Und da stehen wir heute. Kaum Biogas – geht das technisch nicht? Schaut nach Dänemark. Unsere Förderung von Biogas geht an der Notwendigkeit für Gaskraftwerke zur Netzstabilisierung vorbei. Künstliches Erdgas? Fehlanzeige, wir machen nichtmal Elektrolysewasserstoff für chemische Industrie und AdBlue-Erzeugung, sondern gewinnen diesen Wasserstoff aus… russischem Erdgas. Wow. Das sehe ich als den wesentlichen Punkt, an dem wir betrogen wurden. Wolkige Innovationsversprechungen wurden genutzt, um auch ökologisch interessierten Wählern schwarz verantwortete Gaskraftwerke und geradezu wahnwitzige Blockade von Netzausbau und Ersatz von Fossilen durch Erneuerbare auch außerhalb des reinen Energiesektors schmackhaft zu machen, während man ihnen gleichzeitig den Atomausstieg gab.

Und wo stehen wir jetzt? Für Kleinhalten der Grünen mittels Atomausstieg und „Infrastruktur für Biogas und Elektrolysewasserstoff“, wobei Biogas und Elektrolysewasserstoff nicht umgesetzt wurden, haben uns vier Merkelkabinette unter Beteiligung von FDP und SPD in die Abhängigkeit von Putins Gas verkauft. Das mag sehr drastisch formuliert sein.

Diese drastische Formulierung wähle ich aber aus einem Grund: Die schrille Polemik, mit der Politiker aus CDU und CSU (sowie FDP) (mir auf Twitter besonders aufgefallen: Lindner, Bär, Söder, Merz) die Energiepolitik der Ampel und konkret Robert Habeck kritisieren, ignoriert völlig, dass das Problem von großen Koalitionen und schwarzgelben Koalitionen überhaupt erst geschaffen wurde und deren Rezepte (äh, Rezepte dagegen, welche eigentlich?) dagegen noch weniger gebracht hätten als das, was die Ampel im Moment tut.

Sind wir betrogen worden? Bestimmt. Politik ist die Kunst des Machbaren, sagt man, und Populismus die Kunst der Augenwischerei. Wenn man beides mischt, was leider die kurzfristig erfolgreichste Wahlstrategie zu sein scheint, und Krisen dazu mischt, kommt Betrug dabei heraus. Mir persönlich war an dieser Stelle aber wichtig, in diesem einen konkreten Fall klar zu machen, dass im Moment die Betrüger über die schimpfen, die das wieder einfangen müssen, und somit eigentlich keine Berechtigung dazu haben.

Ganz klar möchte ich aber machen: Sicher gibt es andere Fälle, in denen die, die’s sehenden Auges oder auch aus Versehen verbockt haben, nach Kräften den danach kommenden „Fixern“ ihre eigenen Fehler zuschreiben, um nicht verantwortlich zu sein. Das ist genauso Betrug, von der Farbe der Partei ganz unabhängig. Im konkret beschriebenen Fall würde ich aber wirklich so weit gehen, dass der Betrug von großen Koalitionen und Schwarzgelben ausging, und nun auf die Ampel und konkret die Grünen abgewälzt bzw. mit Nebelkerzen abgelenkt werden soll.

Eine Gabelung der Evolution?

Manchmal schaue ich auf die Welt, schaue mir die Perspektiven anderer Menschen an und staune. Natürlich klingt es ein bisschen überheblich, über die Perspektiven anderer Leute zu staunen. Aber von Anfang an…

Eine Freundin und ich chatteten heute über meinen Besuch bei der „Radlabor“-Konferenz der Hochschule Karlsruhe. Dort wird zum Thema Radverkehr geforscht, sowohl im Ingenieursbereich, als auch im stadtplanerischen Bereich und natürlich auch ganz stark in der Datenerfassung von Radverkehr – Bedarf, Gefahren, Regeleinhaltung, Gefahrenstellen, Konflikte und sogar Simulation. Dabei kam das Thema auf, wie sich in einem Experiment in Baiersbronn der Modal Split massiv veränderte – aus zuvor 72 % Auto in der Aktionsgruppe, die kostenlos ein Pedelec gestellt bekamen, wurden 28 % Auto und 68 % der Fahrten mit dem Pedelec. Bei der Gelegenheit kamen wir dann auf generelles Verkehrsverhalten. Zur Sprache kamen Extreme wie Menschen, die 20 bis 30 Kilometer (eine Strecke!) zur Arbeit mit dem Rad pendeln, oder gar einzelne Strecken laufend und den Rest mit dem Rad oder dem ÖPNV pendeln auf der einen Seite. Der andere Pol sind dann Leute, die beim Bäcker vor der Tür parken und dann ihr Auto drei Häuser weiter zum Metzger bewegen, und ja, das waren keine aus der Luft gegriffenen Beispiele. An dieser Stelle kamen mir zwei Bilder, zwei… Perpektiven, die sich vor allem darin unterscheiden, ob die Menschheit in zwei Gruppen zerfallen ist, die voneinander wissen, einander gar teils bedingen, aber in vielen Aspekten so unterschiedlich sind, als gehörten sie zwei verschiedenen Spezies an – oder ob das Ganze doch noch ein Spektrum ist, dessen Enden auch ob des kontinuierlichen Übergangs dazwischen doch noch kompatibel sind. Lasst mich erst einmal die Gabelung der Evolution zeichnen.

Man stelle sich vor… ein Mensch erhebt sich morgens aus seinem Bett, setzt Kaffee auf, trinkt diesen, putzt sich die Zähne und sperrt dann die Tür zwischen Flur und Garage auf. Ohne unter freiem Himmel gewesen zu sein, setzt er sich in sein Auto und rollt durch den morgendlichen Verkehr in einen entfernten Ort, stellt sein Gefährt in eine Tiefgarage, fährt mit dem Aufzug ins Büro hinauf und verweilt dort, vor einem Rechner sitzend, geht in die Kaffeeküche, geht zu einer Besprechung in den Konferenzraum. Zum Mittag bestellt die Kollegenrunde Pizza direkt ins Büro. Gegen 17:00 verlässt jener Mensch sein Büro, fährt mit dem Aufzug in die Tiefgarage, steigt ein, fährt nach Hause – kurz vor dem heimatlichen Dorf biegt er auf einen Parkplatz ab, ist das erste Mal an diesem Tag außerhalb eines Gebäudes oder des Autos, erreicht vielleicht seinen 800sten oder 1000sten Schritt an diesem Tag, während er Chips und Bier kauft. Dann trägt er selbiges in sein Auto, setzt sich hinein und fährt nach Hause. Mit der Fernsteuerung lässt er das Garagentor hochfahren, verlässt die Garage durch die Verbindungstür in den Flur, während das Garagentor herunterfährt, und schaltet den Fernseher an. Ein Glück! Das Spiel läuft erst 10 Minuten, freut er sich, während er mit seinem Feuerzeug die erste Bierflasche öffnet und die Chipstüte aufreißt. 1200 Schritte sind auf seinem heutigen Bewegungskonto. Als auf dem Bildschirm der Ball wechselt, zur von unserem Probanden bevorzugten Mannschaft, in Richtung Mittellinie gespielt wird, ein Mittelfeldspieler dribbelt und flankt… unser Proband auf dem Sofa spuckt Chipsreste auf den Tisch, als er in Richtung des Bildschirms brüllt: „Mann, du musst im Sechzehner sein, wenn die Flanke kommt! Das ist zu langsam…“ Wir reflektieren: Selbiger Mensch hat auf dem Supermarktparkplatz das erste Mal freien Himmel ohne Glas davor gesehen, am heutigen Tage vielleicht 1200 Schritte zurückgelegt, und fordert vom Stürmer seiner Mannschaft, in etwa zehn Sekunden von „wir wollen den Ball“ auf „wir haben den Ball“ umzuschalten und mehr als 50 Meter über das Spielfeld zurückzulegen, sich dann auch noch freizulaufen, hakenschlagend, um ungedeckt von einem Verteidiger eine Flanke annehmen und im Tor versenken zu können. Er guckt ein Spiel an, in dem die Spieler acht bis vierzehn Kilometer in einem Spiel laufen, dabei 10.000, vielleicht 20.000 oder mehr Schritte machen, was unserem Menschen auf dem Sofa vielleicht nicht unmöglich ist, vielleicht nicht unmöglich erscheint, aber in der Multiplikation von Unfähigkeit und Unwilligkeit doch niemals passieren wird. Nicht täglich, wie’s der Fußballspieler trainiert, nicht einmal wöchentlich, wie’s unser Mensch beim Fußballspieler tatsächlich sieht, nicht einmal im Jahr.

Sind dieser auf der Couch sitzende Mensch, der offenkundig von den Fußballspieler auf dem Bildschirm etwas erwartet, was für ihn durch Entwöhnung und Unlust unmöglich ist, noch ein und dieselbe Spezies? Können dieses beiden, die ganz offensichtlich in ihren körperlichen Fähigkeiten völlig inkompatibel sind, und das ganz ohne Unfall oder Behinderung, noch in irgendeiner Weise dieselben sein?

Das war ein extremes Beispiel und es war auch zumindest beim Fußballer nicht so auf den Verkehr, auf die Alltagsbewegung fokussiert, wie ich das vielleicht gerne hätte – bei unserem Menschen auf dem Sofa habe ich schon illustriert, wie viel Bewegung im Alltag vermieden wird. Wechseln wir also die Perspektive.

Nehmen wir mal an, da ist ein Mensch, der 1500 Meter zum S-Bahnhof von zuhause zu gehen hat, das auch immer zu Fuß macht. Manchmal muss dieser Mensch diesen Weg sehr schnell zurücklegen, weil unsere Probandin nach dem Tee Trinken einfach nicht in die Gänge kommt. Sie fährt mit der S-Bahn in die Stadt, wechselt dort den Zug, schaut sehnsüchtig auf den nebenan abfahrenden IC nach Westerland („Ich will wieder an die Nordsee…“) und rollt mit einer anderen S-Bahn zum Arbeitsort. Dort hat sie noch fast einen Kilometer zu gehen. Nachdem sie Mittags mit einem Kollegen, der mit dem Rad zum Büro kam, einen halben Kilometer zum Supermarkt gegangen ist, um was zu Essen zu kaufen, und den Nachmittag über weiter gearbeitet hat, zieht sie sich im Büro um, lässt ihren Büroklamotten da – fährt 20 Kilometer mit der S-Bahn an den Bahnsteig, wo sie zuletzt „Westerland“ von den Ärzten gesummt hatte, und rennt von dort einen Halbmarathon nach Hause. Später in ihrem Leben wechselt sie zu einer Arbeitsstätte in der Stadt mit dem Bahnhof, an dem der Zug nach Westerland abfährt, pendelt mit der Bahn und rennt öfter mal ganz vom Büro nach Hause – später pendelt sie fast nur noch mit dem Fahrrad und schafft eigenes Auto und Monatskarte ab.

Unsere Probandin weiß, wie schwer Bewegung fällt, wenn man sich lange kaum bewegt hat, sie ist mal völlig unglücklich Langstrecke mit dem Auto gependelt. Aber sie hat weniger Laufen und Radfahren im Fernsehen angeschaut (auch wenn sie das auch gerne tut), sondern hat es auch und mehr getan. Zehn Kilometer Aktionsradius zu Fuß, dreißig und mehr Kilometer Aktionsradius mit dem Fahrrad hat sie, in ihrem ganz persönlichen Modal Split kommt das Auto gar nicht mehr vor. Sie weiß, dass Spitzensportler, denen sie zujubelt, vielleicht eine Mischung aus Talent und Verletzungsresistenz mehr haben als sie, aber grundsätzlich sind Anna Kiesenhofer, Eliud Kipchoge, Wout van Aert und wie sie alle heißen, keine grundsätzlich unerreichbaren Sagengestalten. Freilich bemerkt sie, wenn jemandem die Kraft ausgeht, er oder sie eigentlich Aufgaben in einem Rennen oder Spiel zu erfüllen hätte – aber sie kennt’s selbst, manchmal geht das einfach nicht. Statt in den Bildschirm hinein zu fordern, bedauert sie, dass es nicht geht. Sie hat bemerkt, dass Menschen, die eher berührbar sind, neben denen sie auf den Veranstaltungen nach Läufen saß, auf deutschen Meisterschaften über zehn Kilometer gelaufen sind, sie hat mit Menschen auf einem Marathon-Podium gestanden (viel weiter unten freilich), die in einer anderen Disziplin Weltmeister waren.

Für mich, die ich eine recht gute Vorstellung vom Potential auch des menschlichen Körpers einer Person hat, die normal arbeitet, erscheint es vom Couch Potato bis zum Spitzensportler als ein kontinuierliches Spektrum. Die Positionierung unserer selbst in diesem Spektrum hängt weit mehr von unserem Willen ab, uns zu bewegen, als von Anlagen und Talenten. Natürlich gibt es Krankheiten und andere Probleme, die einen hier rausnehmen. Aber ein Großteil der Menschen gebraucht „keine Zeit“ für Bewegung sehr gedankenlos. Man kann mit dem Rad zur Arbeit fahren. Man kann sich zum ÖPNV gehend hinbewegen, statt mit dem Auto hinzufahren. Man findet Zeit für einen Spaziergang. Bewegung und Sport lassen sich an vielen Stellen unterbringen, und Bewegung in die alltäglichen Wege einzubringen, schon 100 Meter nicht mit Umparken des Autos, sondern zu Fuß zurückzulegen, spart Energie. Das greift ineinander.

Sind wir nun zwei verschiedene Spezies? Biologisch sicher nicht. Das Potential ist da. Dass wir nicht alle das körperliche und mentale Potential haben, Marathon unter 2:30 zu laufen, die Tour de France zu bestreiten oder Fußball auf hohem Niveau zu spielen, und nur sehr wenige die Chance bekommen, entsprechend intensiv zu trainieren, ist gegeben. Nicht allzuselten höre ich von Menschen, die eigentlich um Weltrekorde im Marathon wissen, dass man „so schnell doch gar nicht laufen“ könne, nachdem ich von Intervalltraining mit 400-Meter-Abschnitten in 1:30 und weniger berichte. Eliud Kipchoge läuft schneller, deutlich schneller, und nicht 400 Meter am Stück, sondern 42,195 Kilometer. Ich höre von Leuten, die das Straßenrennen bei den Olympischen Spielen angeschaut haben, dass vierzig Kilometer Radfahren zur Arbeit und zurück am Tag „irre“ seien, ich höre es so oft, dass ich es selbst auf mich und andere anwende. Wenn ich mir allerdings das am Anfang gezeichnete, zugegebenermaßen überspitzte Beispiel anschaue, möchte ich sagen: Wir sollten in Sachen Bewegung und Sport, in Sachen wissenschaftlichem Denken und Logik, in so vielen Dingen uns nicht in Trägheit suhlen und vermeintliches oder echtes „gottgegebenes“ Talent bewundern, am Ende noch die, die sich all diese Fähigkeiten hart erarbeitet haben, vor dem Fernseher, im Stadion oder an der Strecke dafür verurteilen, wenn’s mal nicht so läuft.

Man kann Zuhause-Arbeit-Zuhause fahren und sich ein bisschen wie bei Lüttich-Bastogne-Lüttich fühlen, man kann von der Arbeit heimrennen, sich wie bei einem Städtemarathon fühlen, beim Einbiegen in die heimische Straße die Hände hochreißen und am nächsten Tag mit der Bahn wieder hinfahren, wenn man keine Dusche im Büro zur Verfügung hat. Man kann zur S-Bahn gehen und wieder zurück, zum Bäcker und wieder heim, man kann einen Lastenanhänger ans Rad hängen und Getränkekästen kaufen oder die Picknickdecke damit zur Wiese befördern. Wenn das Gelände zu anspruchsvoll ist, kann man über ein Pedelec statt ein rein muskelgetriebenes Rad nachdenken.

Es gibt so viele Wege, sich von Sport, für den man sich begeistert, für das eigene Leben inspirieren zu lassen, und oft ist es so, dass etwas zu betreiben – als Hobby- oder Vereinssport, als Verkehrsmittel, was auch immer – in einem Verständnis und Begeisterung für einen bewunderten Leistungssport verstärkt und es befriedigender macht, diesen anzusehen. Denn wir sind eine Spezies, und dass es manchmal nicht so aussieht, ist bei so manchem eben keine krankheits- oder talentlosigkeitsbedingtes Schicksal, sondern schlicht Trägheit.

Abwägung

Wer hier aufmerksam liest, weiß, dass ich viele Daten meines Körpers ständig messe – beim Sport, aber eben auch in Ruhe. Ich präsentiere hier nicht ständig alle Werte, weil viele eben doch eingependelt sind und über „Nichts Neues“ braucht man ja auch nicht zu berichten. Über Sport, aber auch eine chronisch entzündliche Darmerkrankung und anderes habe ich zudem ein Gefühl für Belastung von Physisches, Mentales und Psychisches entwickelt, ein paar Erfahrungswerte stecken auch in der Selbstbeobachtung.

Was ich nicht ganz so oft hier zeige, ist meine Trainings- und auch Lebensplanung, sondern meistens erst den Vollzug. Wie heißt es so nett: Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt! Daher wird natürlich modifiziert und angepasst, aber nicht auf’s Geratewohl, sondern unter Berücksichtigung der Vorkenntnisse und der aktuellen Ereignisse, die zur Modifikation des Plans führen müssen. Zum Beispiel hatte ich vor, auf den Badenmarathon im September nach Peter Greif zu trainieren, unter Verwendung des „Countdown“. Das hätte erfordert, dass ich gesund und ausgeruht Mitte Juli loslegen kann. Nun hat mich nach der Bergdorfmeile eben doch Sars-CoV-2 erwischt, also steht ein Loslegen mit Tempotraining ab 17.07. nicht zur Debatte – warum nicht? Weil ich unter Berufung auf die bisher gelesenen Erfahrungswerte mit Covid-19 für mich selbst beschlossen habe, dass auch bei einem Verlauf ohne Herzbeteiligung 14 Tage ab Symptombeginn oder eine Anzahl von symptomfreien Tagen, die mindestens der Zahl der symptombehafteten Tage entspricht, bis zum Wiederanfahren des langsamen Trainings verstreichen müssen – je nachdem, was länger ist. Dass ich dann vor hatte, Belastungsgefühl und Herzfrequenz im Verhältnis zum Tempo gut zu beobachten, versteht sich von selbst, dafür habe ich ja das PRAPP und den PRAGQ.

Ich gebe zu, dass das System an Datennahmen, Analysen und Abwägungen, gekoppelt mit dem Körpergefühl, reichlich komplex geworden ist. Dass ich zum Beispiel auch einbeziehe, ob ich gut geschlafen habe, weil ich erfahrungsgemäß negativer urteile, wenn ich schlecht geschlafen habe, macht es nicht besser. Auch, ob ich komplexe, hypothetische Gedanken zu Ende führen kann nach einem kurzen Absetzen oder einer Unterbrechung, spielt eine Rolle, denn oft ist die Unfähigkeit hierzu ein Zeichen, dass mental, emotional oder vielleicht sogar körperlich etwas nicht stimmt. Ich mache in den letzten Jahren allerdings zunehmend die Erfahrung, dass Menschen die Gültigkeit meiner Messungen, Analysen, Prognosen und daraus resultierender Pläne für mich selbst bezweifeln. Das rührt manchmal daher, dass sie das System nicht begreifen, manchmal daher, dass sie mir nicht zuhören und gelegentlich auch, dass sie eigene Erfahrungen (mit sich, ihrem Leben, ihrem Körper), Vorurteile, Ängste oder auch allgemeine Ideen ohne Berücksichtigung des Einzelfalles für wesentlich valider für meine Situation halten, als meine an meiner Situation und mehreren Krisen entwickelte Selbstbetrachtung.

  • Ich komme mit Fällen fiebriger Schwäche zum Arzt und man will mir das Laufen verbieten, weil ich als Nebenschauplatz vom langen Liegen durch den anschließenden, zweitägigen Migräneanfall leichte Schmerzen im unteren Rücken habe. Am Ende war’s Borreliose…
  • Selbe Krankheitsphase, ich gebe gegenüber dem Arzt zu, dass der Anteil intensiver Einheiten im Vorfeld etwas hoch war und dass ich das beim Wiederanfahren in Form von Korrekturen berücksichtigen will. Ich bekomme eine Überweisung mit der Bitte an den Orthopäden, mir Trainingsberatung zu geben…
  • Ich werde gefragt, wie es mir geht, mit meiner aktuellen Sars-CoV-2-Infektion. Ich erläutere, es geht schon besser und erzähle von dem Plan, mindestens zwei Wochen ab Ausbruch und mindestens doppelt so lange, wie ich symptomatisch war, mit sanftem Sport Wiederanfahren zu warten. Ich bekomme empfohlen, doppelt so lange zu warten.
  • Ich erzähle von meiner Trainingssteuerung und der eigenen Überwachung durch Messungen. Man sagt mir, ich solle es nicht übertreiben – jedes Mal.

Ganz allmählich frage ich mich, warum ich eigentlich von meinem internen Mess-, Analyse- und Planungssystem, modifiziert durch Körpergefühl erzähle. Warum ich von Fehlern erzähle, die ich erkannt habe und am korrigieren bin. Wer das System nicht versteht, bezweifelt instantan, dass es funktionieren kann. Vermutlich, weil es komplex und umfangreich und mathematisch ausgedrückt ist. Wenn ich von meinem Körpergefühl erzähle, wird dem grundsätzlich misstraut. Wenn ich von Fehlern erzähle, die ich erkannt habe, werden mir die fortan auf’s Brot geschmiert – dass sie selbst erkannt und dabei bin, daraus für die Zukunft zu lernen, wird entweder ignoriert oder die Person hat da schon aufgehört, mir zuzuhören.

Es gibt so viele Leute, die mich fragen, wie es mir geht oder was ich gerade mache. Sie bekommen dann eine ausführliche, ehrliche Antwort, teils auch unter Erwähnung der Irrwege, aus denen kein „How to“ entsteht, sondern ein „Wie es nicht geht und weswegen man es nun anders macht“. Vielleicht sollte ich floskelhaft „danke, gut“ oder „schon langsam besser“ verwenden, statt einer ausführlichen Antwort. Vielleicht sollte ich die Überlegungen, die zu meinen Plänen führen, sowie meine Pläne selbst, verschließen.

Es sind sicher nicht die Hälfte der Leute, deutlich weniger, auf die das zutrifft – für mich sind’s aber zu viele. Ich mag es, Ratschläge zu bekommen. Aber bloß, weil deren Freiheitsgefühl, deren Angst, deren Körpergefühl und Vorstellungsvermögen völlig anders funktioniert als meines, ist meines noch nicht falsch. Und bloß, weil mein System aus Körpermessdaten (beim Sport und in Ruhe), abgeleiteten Schätzern und daraus gezogenen Schlussfolgerungen nicht verstanden wird, ist es noch nicht falsch oder unsicher, im Gegenteil: Ich habe viele Schätzer im Stillen ausprobiert, diskutiert, evaluiert – und benutze sie, WEIL sie über Jahre hinweg funktioniert haben, auch für Trainings- und Lebensplanung.

Ganz konkret: Wenn ich auf so manche Ratschläge gehört hätte, hätte ich nicht mit dem Laufen eine Methode, die mir eine erhebliche Reduktion meiner Kopfschmerz- und Stressproblematik gibt. Hätte ich auf all die Leute, die nicht nur von sich ausgehen (das tue ich nämlich auch), sondern ihre Limitierungen und Vorstellungen auf andere übertragen, wäre ich niemals unter 3:10 auf den Marathon gelaufen. Hätte ich mich mit der Anzeige der maximalen Sauerstoffaufnahme meiner Uhr und der Ansage: „Sie brauchen einen externen Trainer!“ abgefunden, hätte ich nie herausgefunden, dass ich meistens, wenn auch nicht immer, über das PRAPP noch symptomlose Infektionen detektieren kann, ich hätte das PRAPP überhaupt nicht entwickelt, sondern mich auf eine andere Person verlassen, ohne es zu hinterfragen, dass diese andere Person analytisch auch nur mit Wasser kocht – sicher nicht schlechter als ich, aber zwingend besser?

Am Ende des Tages reagiere ich wahrscheinlich im Moment deswegen so empfindlich, weil ich gerade sehr konkret spüre, wie das Bedürfnis nach Vor-Pandemie-Normalität auf der einen Seite und die Sorge, mich und andere zu infizieren, das Sicherheitsbedürfnis auf der anderen Seite an mir zerren. Wenn Leute gute Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die ich wissentlich oder aus Versehen nicht ergriffen habe, frage ich mich, ob ich das hätte tun sollen. Wenn Leute Dinge tun, die ich mich nicht traue, frage ich mich, ob die mir auch gut getan hätten, und das Risiko in dem Falle wert gewesen wären. Wenn es um das Handling der Infektion geht, frage ich mich, ob ich in Sachen Sport, in Sachen Arbeit, in Sachen Leben so damit umgehen solle, als sei es ein Schnupfen (wie es sich im Moment anfühlt), oder als hätte ich unbemerkt eine Mykarditis, bzw. wo dazwischen ich mich ansiedeln sollte.

Aber ganz aufrichtig: Bloß, weil Menschen sich anderswo dazwischen ansiedeln als ich, ist meine Ansicht noch nicht falsch. Wenn mich das zu einer Querdenkerin macht, fürchte ich um mich. Aber ich glaube, ich bewege mich argumentativ und analytisch auf einer faktenbasierteren Grundlage als sowohl die Querdenker als auch die, die gefühlsmäßig einfach immer nochmal in Sachen Angst und Vorsicht einen draufsetzen.

Nur mal so am Rande…

In den letzten Wochen habe ich über soziale Medien öfter Berichte von Radfahrern gelesen, denen bei Forderungen nach geteerter Radinfrastruktur vorgeworfen wurde, sie führen ja nur aus Freizeitgründen. Auto-Infrastruktur diene ja Arbeitswegen… deswegen reicht Schotter und festgefahrene Erde für Radwege, Straßen (bei uns selbst die zum Paddelverein am Altrhein im Naturschutzgebiet!) sind dagegen stets geteert und glatt.

Nur mal angerissen: Als Radfahrer oder Radfahrerin ist man auch mit Schutzblechen dem von den Rädern aufgewirbelten Teil des Belags, insbesondere, wenn er angeweicht ist, deutlich direkter ausgesetzt als in einer Blechdose. Auf zwei Rädern spielt Rutschigkeit durch angeweichte Erde oder durch Schotter eine wesentlichere Rolle für die Stabilität der Fahrt als auf vier Rädern. Den höheren Rollwiderstand durch unebenen Untergrund gleicht man auf dem Rad durch Muskelkraft (oder ggf. ein wenig E-Unterstützung) aus, man spürt also direkt in der erforderlichen Anstrengung die Wege-Qualität.

Spielt ja in der Freizeit alles keine Rolle (echt nicht?). Ich würde allerdings unterstellen, dass ich nicht die einzige Person bin, deren Fahrradnutzung so aussieht:

Gefahrene Rad-Kilometer 2022 bis zum aktuellen Tag, eingestuft nach Anlass der Fahrt.