Heute hatte ich in der Bahn eine skurrile Situation. Dafür muss ich etwas weiter ausholen. Grundsätzlich ist eine volle S-Bahn ja eine ähnliche Situation wie ein voller Aufzug. Die Menschen sitzen oder stehen zu eng, um sich wohl zu fühlen. Daher meiden die meisten die Blicke der anderen.
Heute fuhr ich aber am frühen Nachmittag mit der fast leeren S-Bahn zur Arbeit, da ich zuvor einen Außendienst mit dem Privatwagen in der Nähe meines Wohnortes erledigt hatte. Platz war reichlich, im vorderen Bereich des Wagens saßen in vier Vierersitzgruppen vier Menschen – einer pro Vierersitzgruppe. In Fahrtrichtung rechts waren das zwei Männer – einer in Arbeitskleidung mit Reflektoren mit Rücken zur Fahrtrichtung, mit ihm Rücken an Rücken ein anderer, älterer Mann mit Blick in Fahrtrichtung. Auf der linken Seite saß eine blonde, junge Frau mit Blick in Fahrtrichtung und ich mit Rücken zur Fahrtrichtung an die Fahrerkabine gelehnt, also der Blonden gegenüber und dem älteren Mann schräg gegenüber.
Ich kann nicht genau sagen, warum das so war, aber das Gesicht der jungen Frau mir über zwei Sitze gegenüber faszinierte mich, zugleich wollte ich sie aber auch nicht anstarren. Als ich einmal reflexhaft weggeschaut hatte, als ich sie anschaute und sie den Kopf in meine Richtung drehte, „war es rum“. Ich konnte nicht verhindern, dass ich hinschaute, um herauszufinden, was mich an ihrem Gesicht faszinierte, aber auch nicht, dass ich wegschaute, wenn sie hinschaute. Dumm, eigentlich, aber so war es.
Der ältere Mann mir schräg gegenüber hatte nicht diese Bedenken. Er starrte mich immer wieder an, versuchte nicht einmal, zu lächeln, wich meinem Blick aber nach ein paar Sekunden Blickkontakt stets aus. Er starrte unverhohlen, hielt meinem Blick aber nicht stand, während ich bei der Frau mir gegenüber meist auswich, bevor die Blicke sich berührten.
Man könnte unterstellen, dass der Unterschied nur in meiner Wahrnehmung war: Ich sehe mich natürlich in der „Aggressor“-Rolle selbst scheuer als in der „Opfer“-Rolle des Gestarres. Doch die vermeintliche Symmetrie wurde gebrochen, als beide am Bahnhof ausstiegen: Die junge Frau ging, ich schaute ihr nicht mehr nach, war eh mit meinen Gedanken befasst. Der Mann trat nach Verlassen des Zuges an die Scheibe neben dem Zug und starrte mich offensiv mit grimmigem Blick und heruntergezogenen Mundwinkeln durch das Zugfenster an, bis die Bahn abgefahren war.
Da hatte ich dann richtig ein schlechtes Gewissen. Ich hoffe, nicht auch nur 10% des unangenehmen Gefühl des Angestarrtwerdens verursacht zu haben, das dieser ältere Herr bei mir auslöste. Mir ist mein komischer Reflex, immer hingucken und doch gleich weggucken zu müssen, überaus peinlich. Das Verhalten des Herrn im Zug kann ich mit demselben Reflex erklären, was er aber durch die Scheibe tat, war nichtmal Zoobesucher-Glotzen sondern Gaffen voller Missbilligung. Niemand wird gern so angesehen, und heute bin ich mir auch keines Anlasses bewusst, den ich dazu gegeben haben könnte.
… und gerade schimpft hier ein lallender Herr im Zug ungeniert Beschimpfungen. Ich weiß nicht, ob er telefoniert oder in echt unterirdischem Duktus Selbstgespräche in Lautsprecherlautstärke führt.