Memory

Das Grab meiner Mutter und ihrer Eltern.

Vergangene Woche Freitag ist mein Patenonkel gestorben, ganz unverhofft beim Schachspiel. Meine Großcousinen und meine Tante wollte ich damit auf keinen Fall allein lassen und so fuhren wir heute in meine alte Heimat zur Beerdigung in den Nachbarort meines alten Heimatorts.

Auf dem Heimweg drehten wir noch eine Schleife durch meinen Heimatort und besuchten auf dem Friedhof das Grab meiner Mutter und derer Eltern. Ich weiß, dass meine Mama es ohnehin weiß, aber ich habe ihr erzählt, dass ich nun wieder Rennrad fahre und ihr versprochen, dass ich nicht so wild Rad fahre wie früher. Wir gingen mit dem wohligen Gefühl, dass mein Mann – den sie im Leben nie kennengelernt hat – meiner Mutter nun viel vertrauter ist als die ersten Male, die er mit am Grab war.

Auf dem weiteren Heimweg fügte ich noch eine Schleife an – wir fuhren nicht direkt von Wimpfen wieder nach Bonfeld und dann auf die Autobahn, sondern die Erich-Sailer-Straße in Wimpfen raus Richtung Heinsheim, am Wimpfener Schwimmbad die Steige runter und Richtung Guttenberg. In umgekehrter Richtung hatte ich in einer denkwürdigen Rennrad-Tour vor über 23, vielleicht sogar vor 24 Jahren bis Heinsheim am Hinterrad meines Vaters im Windschatten gehangen und ihn dann, mit einer Kletterer-Attacke am Wimpfener Schwimmbad, für die „Bergwertung“ hinter mir gelassen. Mein Mann war durchaus beeindruckt von der damaligen Rennstrecke.

Nun sind wir wieder daheim und ich hänge Gedanken nach…

Mamas-Geburtstags-Blues

Eigentlich wollte ich andere Dinge schreiben.

Aber manchmal sind es die Dinge, die einem wieder auffallen, die wiederkommen, die den Plan völlig auf den Kopf stellen. So ist es auch heute passiert.

Im Juli 2006 ist meine Mutter gestorben – überraschend, für uns, und eigentlich doch nicht. Wir wussten, dass sie krank war. Wir wussten eigentlich nach einem Jahr voller Probleme, voller Angst, voller Ungewissheit und zwei nicht zielführenden Maßnahmen auch, was sie hatte. Alles schien auf dem Weg zu sein, auf dem Weg zur Besserung. Ich war damals sehr mit mir selbst beschäftigt, manches habe ich so gar nicht wahrgenommen.

Am gestrigen 06.06.2017 wäre sie 64 geworden. Es ist der zehnte von Mamas Geburtstagen gewesen, die wir ohne sie verbracht haben. Es ist – lange her. Unsere Leben sind weitergegangen: Das meines Vaters, mein eigenes, das meiner Schwester. So hätte sie es gewollt, so muss es sein. Gestern hatte ich vieles zu tun, vieles ging durcheinander, anderes war zu erledigen. Ich habe kurz daran gedacht, dass es Mamas Geburtstag war, es dann wieder vergessen.

Heute Morgen, auf der Fahrt zur Arbeit, kam es massiv. Ich musste irgendwie die Stille in meinem Auto füllen, aber es ging nicht: Radio, fröhliche Musik, alles Mist. Schließlich nahm ich meine traurige Musikliste. „Everyone Hurts“ von einer Formation aus Freunden von mir, dazu Moby mit „Why Does My Heart Feel So Bad“, Evanescence mit „My Immortal“, VNV Nation mit „Beloved“, Jon Secada mit der spanischen Version von „Just Another Day“, Simon and Garfunkel mit „Sounds Of Silence“ und Springsteen mit „Streets Of Philadelphia“. Vor allem die letzten beiden atmen die Erinnerung an meine Mutter, den Tod meiner Mutter, die Gemeinsamkeiten zwischen meiner Mutter und mir, die Dinge, die ich als in mir weiterlebendes Vermächtnis meiner Mutter empfinde. Simon and Garfunkel, auf die hat sie mich gebracht. „Streets Of Philadelphia“ habe ich an jenem Abend gehört, auf der Autobahn, im Radio, als meine Mutter starb. Etwa zu der Zeit, als sie starb. Ich bin damals heulend auf den Seitenstreifen gefahren, dabei wusste ich es noch gar nicht!

Es ist der zehnte Geburtstag meiner Mutter, den wir ohne sie verbringen. Ich habe es gestern nicht so gespürt, heute kommt es mit Macht. Aufheitern hilft nicht, also geht nur Ausheulen. Ich werde nicht fragen, ob das je aufhört. Das muss es nicht. Was wichtig ist, was mich geprägt hat, das fehlt. Das muss so. Auch wenn es wehtut und auch wenn es die Menschen um mich herum manchmal etwas schockiert oder betroffen macht, wie sehr mich das immer noch trifft. Es gibt keine intensiven, guten Emotionen ohne die Menschen dahinter – und es gibt keine einfache Weise, mit dem Verlust umzugehen, der damit einhergeht, wenn man sich so bindet. Was wäre das Leben ohne diese Bindung, diese Positivität und ohne diesen Verlust? Es wäre nicht mehr dasselbe. Und ich glaube, es wäre schlechter.

Bewusster Leben Du sollst

Wer kennt sie nicht, die verdrehte Grammatik von Meister Yoda aus Star Wars? Was wir ebenfalls kennen, sind die wohlig-geisterhaften Erscheinungen der eins mit der Macht gewordenen Jedi-Meister in „Return of the Jedi“ ganz am Ende, als Anakin Skywalker, Yoda und Obi-Wan Kenobi lächelnd zuschauen, wie Luke, Leia, Han und all die anderen ihren Sieg auf Endor feiern.

Warum verweise ich darauf?

Nun, vielleicht habe ich das vor Zeiten schon einmal hier beschrieben, aber ich möchte es trotzdem noch einmal tun. Dafür muss ich aber auch aus anderer Richtung ein bisschen ausholen:

Die wohl prägendsten Menschen in meinem Leben, für meine Phantasie, meine Betrachtung des Lebens und meine Neigung zum Erzählen sind meine Mutter und mein Großvater mütterlicherseits. Auf dem Schoß meines Großvaters sitzend habe ich als Kind stundenlang Geschichten erzählt bekommen, Geschichten, deren Helden sich an meiner Person orientierten, Geschichten, die auf Zuruf von meinem Großvater angepasst wurden, damit sie spannend, aber auch gut und richtig für mich waren. Das klingt nach einer Art auf das Wesentlichste reduziertem Rollenspiel mit mir als Spielerin und meinem Großvater als Spielleiter, und genau das war es auch – auch wenn wir es nicht so genannt haben. Zudem hat mein Großvater einerseits einen „Sprachfehler“ gehabt: zu seinen beiden Enkeln konnte er nicht „Nein“ sagen. Meine Schwester und ich haben angstvoll gefragt, als er nach einer Operation aus dem Krankenhaus kam, ob ihm der Sprachfehler wegoperiert worden sei. War er nicht! Aber andererseits hatte das, wozu er nicht „Nein“ sagte, eben auch Methode. In meinen frühen Teenager-Jahren bekam ich aufgrund meines Interesses ein populärwissenschaftliches Buch über Quantenmechanik, Chaostheorie und Selbstorganisation der Materie, über nichtlineare Phänomene. Ich habe erst viel, viel später alles davon begriffen, aber meine Gedanken waren entflammt. An meinem ersten Rechner – ebenfalls von Opa bekommen – habe ich mit der logistischen Gleichung und verschiedene Wachstumsfaktoren herumgespielt, wobei ich gar nicht weiß, ob das damals in Pascal war oder ob ich die Tabellenkalkulation des Office-Vorläufers Works dafür benutzt habe. Noch früher gab’s von Opa massive Unterstützung für die Dino-Phase, so dass ich zeitweise Paläontologie studieren wollte und mich mit Geologie befasste – viele meiner Dino-Phasen-Klassenkameraden fanden das skurril, weil sie die Verbindung zwischen Dinos und Geologie nicht sahen …

Dazu kommt meine Mutter, die mich immer wieder mit Büchern eindeckte – zu Weihnachten gab es Bücher und Legos, später fast nur noch Bücher, und Lesen war absolut wichtig. Dazu unterstützte mich meine Mutter in dem „Sport“, den ich als Kind und Jugendliche betrieb: Dinge auswändig lernen. Zum Beispiel Hauptstädte … zeitweise konnte ich alle Hauptstädte der Welt ihren Staaten zuordnen und umgekehrt, und Mama wurde nicht müde, mich dabei zu unterstützen. Ich kann es gar nicht so genau benennen, aber ich fühle sehr stark, dass meine Mutter auch die Richtungen, in die meine Gedankenwelt sich entwickelte, massiv beeinflusst hat – nicht, indem sie mich irgendwo hinschleppt, sondern indem sie mir Ideen, Gedanken, Bildung, Lesen und Wissen vorlebte. Sie zeigte mir Wege auf, wies mich auf Bücher hin, die ich neben dem ganzen Fantasy- und SciFi-Kram, den ich zum Lesen geschenkt bekam, vielleicht auch lesen sollte. Unter anderem Solschenizyns „Archipel Gulag“ habe ich in erster Linie deswegen gelesen, weil meine Mutter mich darauf hinwies – und von da führte der Weg dann zu „1984“, „Brave New World“, „Fahrenheit 451“ und Jewgenij Samjatins „Wir“. Ganz wichtig war auch die Richtung, die meine Mutter mir mit ihrem Beruf und ihrer Art, ihn auszuleben, aufzeigte – auch wenn mein Talent darin mehr als beschränkt ist: Meine Mutter war Graphik-Designerin und gelernte Druckerin. Es ist schwer zu beschreiben, wie mich zeichnerisch und maltechnisch absolut Unbegabte die Denkweise einer Graphik-Designerin geprägt hat, aber ich fühle die Art, wie meine Mutter Linien zeichnete, entwarf und zusammenfügte, durch meine Schreiberei, durch mein Denken pulsen, und das sehr deutlich. Nicht zuletzt ist auch die Orientierung meiner Mutter und meines Großvaters auf den Menschen als Individuum, mit individuellen Bedürfnissen, denen man wohlwollend entgegenkommen darf und sollte, für mich prägend gewesen – wenn ich dem Ideal auch oft nicht gerecht werde, so strebe ich doch danach, in einer Weise mit den Menschen umzugehen, die den Ansprüchen meiner Mutter und meines Großvaters genügt.

Natürlich nicht zu vergessen der Humor – bei den blöden Wortwitzen, die mir zueigen sind, mag man das nicht glauben, aber auch da haben meine Mutter mit ihren intelligenten, teils auch rhetorisch interessanten humoristischen Äußerungen und der Achtung vor guten, intelligenten Zitaten sowie mein Großvater mit einem Talent für einen an Heinz Erhardt erinnernden Humor, mit Leidenschaft und Esprit in jeder Gesellschaft vorgetragen, mein Ideal, mein Wunschbild, wie ich sein möchte, gesetzt.

Mein Großvater ist 1994, im Alter von gerade einmal 65 Jahren verstorben – trotz Diabetes, falsch behandelten diabetes-bedingten Augenschäden, die ihn weitgehend erblinden ließen, trotz mehrerer Schlaganfälle und überlebten Krebs war er stets vital, lebenslustig und ein ebenso lebenslustiger wie begeisterter und begeisternder Mensch. Er hat das Leben für mein Gefühl, für das Gefühl eines Kindes und einer Jugendlichen, immer um so mehr umarmt, je mehr es ihm durch seine Krankheiten vergällt wurde. Nach seinem Tod habe ich es erst gar nicht realisiert. Meine Schwester und ich verfolgten, auf meine Großmutter halbwegs aufpassend, halbwegs betäubt, unsere Fernsehroutine an jenem Abend, während meine Eltern Dinge erledigten, die nun einmal nach einem Trauerfall erledigt werden müssen. Erst auf der Trauerfeier habe ich es so richtig realisiert – und habe prompt einen regelrechten Blackout gehabt. Mir fehlen bis heute etwas mehr als anderthalb Stunden aus der Erinnerung an diesen Tag.

Meine Mutter ist 2006, im Alter von nur 54 Jahren verstorben – trotz vieler Dinge, die ihr Probleme gemacht haben, die ich erst nach ihrem Tod angefangen habe, auch nur teilweise richtig zu verstehen, war sie immer ein warmherziger, offener Mensch, mit dem man über alles reden konnte. Meine Mutter war der Ansicht: „Reden hilft!“, und mit ihr zu reden half tatsächlich immer. Denn meine Mutter konnte sehr gut zuhören – das ist etwas, das mir meist erst wieder bewusst wird, wenn ich es hinschreibe oder sage – oft neige ich dazu, das zu vergessen. Die Nachricht von ihrem Tod erreichte mich am Tag danach – man wollte vermeiden, dass ich mit der vollen Betäubung durch die Trauer mich ins Auto setzen und unvorsichtig fahren würde. Da ich zu Gast war bei einem Freund, war ich schwer zu erreichen. Auf der Fahrt zu jenem Freund, es war ein Freitagabend, musste ich beim Lied „Streets Of Philadelphia“ von Bruce Springsteen auf der Autobahn anhalten, weil ich in Tränen aufgelöst war und nicht mehr fahren konnte. Wie ich am nächsten Tag erfuhr, waren es genau jene Minuten, in denen meine Schwester noch einmal losfuhr, ein paar Kleinigkeiten für den gemeinsamen Abend mit meiner Mutter zu kaufen – danach fand sie unsere Mutter zusammengebrochen auf der Toilette vor, bereits tot. Mein Freund fuhr mich von Saarbrücken nach Hause in mein Elternhaus, mit meinem Auto, und brachte mich auch wieder nach Hause.

Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit den beiden hatte und lerne immer wieder, vielleicht nicht jeden Tag, aber doch immer wieder, was mir diese beiden Menschen in meinem Leben mitgegeben haben.

Wenn ich – was ich viel zu selten tue – in Wimpfen, wo ich herkomme, auf dem Friedhof am Grab meiner Großeltern und ihrer einzigen Tochter knie, dann kann ich sie oft sehen. Geisterhaft glänzend, wie sie wohlwollend auf mich schauen, stolz auf das, was ich aus mir gemacht habe – auch wenn sie sicher beide nicht alles gut fänden, was ich mit meinem Leben angefangen habe, so bin ich doch davon überzeugt, dass sie schätzen, dass ich meinen Weg gefunden habe – und dass sie beide akzeptieren können, wo ich ihnen unbequeme Entscheidungen getroffen habe.

Ohne irgendwen, weder die Lebenden noch die Toten, abwerten zu wollen, da sehe ich meine eins mit der Macht gewordenen Meister, deren … nun, um im Bild zu bleiben: Padawan ich war und mich als solche noch immer empfinde.

Dieser Beitrag gehört zu der nicht versprochenen, aber vielleicht doch wahr werdenden Serie von Beiträgen, die von diesem Beitrag der wundervollen Annette und Urheberin der Ruhrköpfe inspiriert wurden. Den ersten dieser Serie – die ich noch immer nicht verspreche – findet Ihr unter Wenn Du es tun willst – tu’s jetzt!