Da ich nun Rennrad fahre – genau genommen ja WIEDER Rennrad fahre, wurde mir von Ma San ein Buch empfohlen. Es geht um „Das Rennen“ von Tim Krabbé, in der deutschen Übersetzung. Bereits die ersten Zeilen, die durchaus öfter mal zitiert werden, hatten mich:
„Meyrueis, Lozère, 26. Juni 1977. Warm, bewölkter Himmel. Ich nehme meine Sachen aus dem Auto und setze mein Fahrrad zusammen. Von Straßencafés aus schauen Touristen und Einwohner zu. Nicht-Rennfahrer. Die Leere in ihrem Leben schockiert mich.“
Aus: Tim Krabbé – Das Rennen
Das gilt allerdings nicht nur für das Radrennfahren. Auch Laufwettkämpfe haben so einen Sog und so ein Gefühl des Abgehobenseins, auch wenn das Rennrad mit all seiner Technik und auch der Rennzirkus des Radrennens es betonen. Ich selbst bin – vor langer Zeit – nur ein Rennen gefahren. Es war das Scheuerbergrennen in der Nähe von Heilbronn, ein Einzel-Bergzeitfahren über eine nicht allzu große Distanz und nicht allzu viele Höhenmeter. Ich habe es nicht gewonnen, aber mein Teenager-Ich schnitt für den damaligen Anspruch ganz gut ab. Aus Überanstrengung nahm ich eine Fanta zu mir, nachdem ich über den etwas flacheren Gipfel gesprintet war, und kotzte sie instantan wieder in die Büsche.
Wenn ich den obigen Absatz so lese, frage ich mich: Klang ich auch vor der Lektüre von „Das Rennen“ schon so, oder kam das erst dadurch?
Was in „Das Rennen“ passiert, ist erstaunlich schnell gesagt: Tim Krabbé nimmt, als Amateurradfahrer, an einem bergigen, schweren Radrennen in den französischen Cevennen teil. Es ist die Mont-Aigoual-Rundfahrt, deren namensgebender Berg in der Tour de France 2020 als Bergankunft Etappenziel war. Dazu beschreibt er Rennfahrertypen, Rennsituationen und seine Taktik, seine Gefühle, seine Einstellung in greifbaren Begriffen und über Anekdoten und Exkurse.
Klingt simpel? Ist es auch! Aber in diesem simplen Konzept, in dem ein Haufen Erfahrung mit Radrennfahren und ein Haufen Einfühlung in den Radrennsport und seine Geschichte, seine Gestalten stecken, liegt Genialität. Für mich, die ich selbst in den Neunzigerjahren den Profiradsport verfolgt und bejubelt habe, 2004 dann schließlich in L’Alpe d’Huez beim Contre la Montre an der Außenseite einer Serpentine, in Sichtweite der „Flamme rouge“ den Schweiß der Rennfahrer abbekam, war das Buch wohlige Nostalgie, das Lernen von Anekdoten und gestalt-, ja, wortgewordene Offenbarung dessen, was einem auf dem Rennrad, selbst ohne Rennen, aber mit der Erfahrung von Laufwettkämpfen intus, so durch den Kopf schießt.
Tim Krabbé charakterisiert die Leute, mit denen er fährt, gegen die er fährt, vergleicht sie mit bekannten Gestalten. Durch eine gewisse Hingabe zum Verfolgen der Tour de France in den Jahren, in denen ich selbst hobbymäßig fuhr und auch später noch, waren mir Fahrer wie Bernard Hinault, Jacques Anquetil, Lucien van Impe, Federico Bahamontes, Gino Bartali und Fausto Coppi schon ein Begriff, Eddy Mercks natürlich auch. Wie wichtig die Psychologie, die Taktik und das Gefühl sind, und wie sehr sie einander widersprechen und doch zusammenwirken, das charakterisiert und karikiert Tim Krabbé oft in wenigen Sätzen eines Absatzes. Eben noch spricht die Vernunft, geißelt den Angriff eines Mitfahrers, Gegners als sinnlos und zu früh, im nächsten Moment wird sich Krabbé bewusst, dass er selbst gerade angreift und dass es gut ist! Auch das schnelle Wandeln vom Gegner im Feld zum Verbündeten in der Ausreißergruppe wieder zum Gegner beim Sprint, auch das zeichnet er in einer Weise nach, die der Faszination einer schweren Bergetappe der Tour de France erklärt, aber nicht entzaubert.
In der Mischung aus Anekdoten und dem Drama eines Rennens, in dem die Chancen hin und her wogen, fängt Tim Krabbé die Faszination Radsport in einer Weise ein, die sonst wohl nur für jemanden, der zumindest Ausdauersport-Rennen und Rennradfahren kennt, zugänglich wäre.
Die Fortsetzung des Anekdotischen aus „Das Rennen“ begleitet mich gerade in Form von Tim Krabbés „Die Vierzehnte Etappe“, aber ohne die Mont-Aigoual-Rundfahrt als Kulisse ist es nicht ganz so das, was „Das Rennen“ in mir weckte. Zugleich schießen mir selbst ein Haufen Anekdoten durch den Kopf… aus meinem eigenen Nicht-Rennen-Rennradfahren früher und heute, aber auch aus dem Schauen von Radrennen. Wohlig eingepackt, in sportliche Faszination und Nostalgie.