Ich merke immer wieder, wie ich mich über andere Verkehrsteilnehmer ärgere. Oder über andere Leute im allgemeinen. Wie ich sage, dieses oder jenes „gehe überhaupt nicht“.
Und dann ertappe ich mich dabei, selbst nicht so viel anders oder gar genau so zu handeln. Ich sehe zum Beispiel Geschwindigkeitsbegrenzungen in aller Regel ein. Aber dennoch korrigiere ich mich nicht auf die 75 der LKW und fahre rechts rüber, wenn ich bei Tempolimit 80 in der Baustelle mit etwas über 90 auf dem Tacho links im Verkehr mitschwimme. Ich sehe ein, dass Abstand wichtig ist, ich ärgere mich über Drängler – und doch merke ich immer mal, dass ich nun doch dichter aufgefahren bin, als ich das bei einem anderen Fahrer hinter mir als okay akzeptieren würde. Ich ärgere mich darüber, wenn ich im Stau eine größere Lücke lasse, um Stop-And-Go in langsames Fließen zu verwandeln und vor mir dann einer von der genau gleich schnellen anderen Spur die Lücke zumacht und prompt abrupt bremst. Aber gelegentlich nutze ich auch Lücken und stelle hinterher fest, dass ich etwas schnell war, muss bremsen – und der Hintermann nimmt’s vermutlich genau so wahr wie ich, wenn ich mich über sowas ärgere.
Ich nehme es recht persönlich, wenn ich merke, dass ich die von mir selbst an andere gesetzten Standards gefühlt oder auch echt nicht erfülle. Nicht nur im Straßenverkehr, auch im Privaten und vor allem im Beruf. Mir wurde schon das ein oder andere Mal gesagt, ich scheitere an meinen eigenen Ansprüchen. Das mag sein – aber irgendwie halte ich es für eine gute Sache, auch die eigenen Fehler schwer zu nehmen. Freilich, Abhaken und beim nächsten Mal besser Machen sollte es sein. Aber die eigenen Fehler Ausblenden und bei anderen Monieren, wenn sie das machen, ist irgendwie scheinheilig.
So gesehen: Ich bin nun zwar nicht unbedingt das, was man eine praktizierende Christin nennen würde, aber in der Hinsicht gibt es zwei griffige Formulierungen, die mir beim Thema „eigene Fehler – anderer Leute Fehler“ in den Sinn kommen und aus dem Neuen Testament stammen:
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?
Das hier ist das eine, sehr konkrete. Im Prinzip die Vorwegnahme der netten Redensart vom „an die eigene Nase fassen“. Sollte man auch im Straßenverkehr immer mal wieder machen. Und dann, sehr konkret, die Anweisung, sich in den anderen hinein zu versetzen:
Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.
Also: Wenn’s mich nervt, dass mir jemand dicht auffährt, sollte ich es selbst auch vermeiden. Allerdings muss ich sagen, dass das eigentlich schon wieder zu schwach formuliert ist. Wenn’s jemandem egal ist, ob ihm dicht aufgefahren wird, ob er bedrängelt wird oder was auch immer, darf er nach der Formulierung ruhig auch anderen dicht auffahren. Der Abstand ist im Interesse der Sicherheit beider Parteien aber dennoch zu klein. Wahrscheinlich greift mein Vergleich zu kurz, aber letztlich sehe ich doch im Stau, dass solche Dinge wie Drängeln und Lückenspringen für einen selbst akzeptabel erscheinen und man sie auch anderen zubilligt, der Tendenz nach. Zumindest bestimmte Fahrer, die allerdings in der Regel nicht mir entsprechen.
Vernünftiger wäre wohl, die Fahrer anzuweisen, dass sie sich konform mit Regeln verhalten, die für alle gelten sollten – man versetzt sich also nicht nur in sich hinein und guckt, was man nicht haben will, wie die anderen handeln – sondern man fordert, dass wie man sich verhält gemäß Regeln verläuft, die problemlos und gut für alle gelten könnten. Und da landet man dann, denke ich, schon beim kategorischen Imperativ.
Aber mit großer Wahrscheinlichkeit stoße ich da in einen Bereich von Ethik und Philosophie vor, von dem ich nichts verstehe – oder unterstelle teils einfach, dass ich selbst und auch die Menschen um mich herum erstens besser und zweitens mir ähnlicher sind, als das in Wirklichkeit der Fall ist. Denn dann verschwimmen in meinen Augen die Grenzen zwischen dem, wie ich behandelt werden möchte und dem, was ich mir unter einer allgemeinen Gesetzgebung vorstelle.