Ich lese immer mal wieder ein bisschen was zum Thema „Laufen“. Hier halten sich an vielen Stellen einige „Gewissheiten“, die ich so nicht untermauert sehe. Natürlich spielt das Thema für mich deswegen eine Rolle, weil ich eine Läuferin bin – diese Tatsache gehört inzwischen fest zu meinem Selbstbild. Etliche dieser „Gewissheiten“ zum Thema laufen, die immer wieder in verschiedenen Medien wiedergekäut werden und immer wieder auf Studien zurückgeführt werden, teile ich so in dieser Form nicht.
„Marathonvorbereitung ist gesund, der Wettkampf nicht“ Dieses Mantra habe ich schon öfter vor den Latz geknallt bekommen. Wenn man das für bare Münze nimmt und zuendedenkt, dann sollte man ein Marathontraining durchziehen, aber eben den Wettkampf nicht laufen. Dass der Wettkampf an sich sehr motivierend ist, um das als gesund gelabelte Training dafür durchzuziehen, wird dabei nicht berücksichtigt. Zudem möchte ich hier nicht grundsätzlich unterschreiben, dass ein Marathon ungesund ist. Ein schlecht oder gar nicht vorbereitet gelaufener oder zumindest versuchter Marathon ist sicher ungesund. Dass der Wettkampf – egal auf welcher Strecke – eine größere Belastung als das Training darstellt, kann und will ich gar nicht bestreiten. Dennoch glaube ich, dass bei entsprechender Vorbereitung auch die volle Distanz mit dem „Dampf“ des Wettkampfgefühls dahinter nicht in dem Sinne ungesund ist – nur halt danach eine ordentliche Erholung erfordert. Was nicht genutzt wird, verkümmert, in dieser Hinsicht ist auch die Leistung abzurufen, auf die man sich vorbereitet hat, Teil des Bewegungs-Gesamtpakets.
„(Zu) viel laufen ist ungesund“ Ein hartnäckiges Mantra, das von einer immer mal wieder zitierten Studie gestützt werden soll. Darin heißt es, das zwei bis drei Stunden laufen in der Woche gesünder seien als sich nicht zu bewegen – ja, auf jeden Fall – aber auch, dass mehr zu machen ungesund sei. Außerdem wird davor gewarnt, so schnell zu laufen, dass man sich dabei nicht mehr unterhalten kann. Tatsächlich gibt es Empfehlungen der WHO, die 30 Minuten sportliche Aktivität am Tag zusätzlich zu dem Gehen im Rahmen z.B. der Arbeit und des Arbeitsweges für minimal nötig ansehen. Schon das sind dreieinhalb Stunden in der Woche. Ich liege derzeit in Bereichen von sechs bis zehn Stunden laufen pro Woche, dazu kommen noch ein- bis zweimal Fitnessstudio. Für mich hat das eine Stabilisierung des Remissions-Zustands meiner Colitis ulcerosa bewirkt, eine effektive Gewichtskontrolle, eine größere Resistenz gegen Erkrankungen und insgesamt mehr Energie für den Alltag erbracht. Das kann natürlich immer noch subjektiv sein. Mit dem Ausdauerjäger mit geringer Lebenserwartung zu argumentieren, möchte ich nun auch nicht riskieren. Die meisten Studien, ob etwas gesund ist, messen dies in gewonnener Lebenserwartung, da schneiden unsere sehr viel laufenden, steinzeitlichen Vorfahren nicht unbedingt gut ab. Aber was unsere steinzeitlichen Vorfahren definitiv zeigen: Der Mensch KANN lang und ausdauernd laufen, die Evolution hat ihn dazu gezwungen, das zu können – sonst hätte der „Jäger“-Aspekt des steinzeitlichen Menschen nicht funktioniert, weil alle Beutetiere im Sprint schneller sind als der Mensch. Dass wir bis ins hohe Alter ausdauernd laufen können, ist aus meiner Sicht ein Hinweis. Ein weiterer Hinweis ist, dass die Langstrecke tendenziell weniger verletzungsanfällig ist als die Kurzstrecke oder schnellkraft- und beweglichkeitslastige Sportarten, die zudem auch eine deutlich ungünstigere Entwicklung mit dem Alter erfahren als das Laufen. Was aber definitiv ungesund ist, sind zu schnelles Steigern der Strecken und Verletzungen nicht ausreichend lange auskurieren. Das hat aber erstmal nichts mit einer verhältnismäßig hohen Gesamtlaufleistung zu tun, die fast zwangsläufig in moderater Intensität gelaufen wird – 70-90 Kilometer in der Woche in der Intensität meiner Intervalltrainings? Nee, danke, da hätte ich längst aufgegeben.
„Laufen schädigt die Gelenke, insbesondere die Knorpel“ An dieser Stelle bin ich besonders ärgerlich. Knorpel werden nicht durchblutet, sie erfahren ihre Nährstoffversorgung nur darüber, dass nährstoffarme Körperflüssigkeit durch Stauchung herausgepresst und nährstoffreichere Körperflüssigkeit danach wieder aufgesogen wird. Dass mancher sich durch zu schnelle Steigerung die Knorpel schädigt, mag sein. Aber in der Regel würde ich vermuten, dass bereits geschädigte, zu lange geschonte und darüber verkümmerte Gelenke und Knorpel beim Laufen durch Schmerz auffällig werden, erst recht, wenn unsinnig schnell gesteigert wird. Aber: Es gibt noch einen anderen Aspekt, der nicht so sehr den Fokus auf den Knorpel, sondern mehr auf die Gelenke legt. Denn laufen ist nicht gleich laufen: Durch sehr gut gedämpftes Schuhwerk, Phasen mit wenig Bewegung, durch das Tragen hoher Schuhe und viele andere Dinge sind wir nicht unbedingt in Fühlung mit unseren Gelenken. Wenn ich barfuß aus einer laufartigen Flugphase auf der Ferse aufkomme, verziehe ich das Gesicht – das tut WEH. Dass ich normalerweise beim Gehen, also ohne Flugphase, auf der Ferse aufkomme, steht auf einem anderen Blatt. Letztlich kann ich beim langsamen Laufen, beim Steigern der Umfänge ein Gefühl dafür entwickeln, was beim Laufen anders ist als beim Gehen, und entsprechend versuchen, mir einen schonenderen Laufstil anzugewöhnen. Denn mit einem für einen selbst und die gewünschten Distanzen geeigneten Laufstil und einen auf Laufstil und Distanzen abgestimmten Schuh ist dieses „Laufen ist schlecht für die Gelenke“ ein zahnloses Raubtier – oder vielleicht sogar für wesentlich mehr Menschen, als man denken sollte, eigentlich nur eine Legende.
„Laufen muss ungesund sein, denn es stirbt immer wieder jemand bei Marathons den plötzlichen Herztod.“ Ja, beim Laufen hat das Herz zu tun, insbesondere die Kombination aus Wettkampf und Hitze stellt eine Belastung dar. Allerdings ist der Clou, dass man sich erstens gut vorbereitet, schon öfter mal über 30 Kilometer gelaufen ist, dass man nicht krank beim Marathon oder anderem Wettkampf antritt, sich Vorerkrankungen und Risikofaktoren bewusst macht und entsprechend damit umgeht, nicht überzieht – und wenn’s sich nicht mehr gut fühlt, auch mal abbricht, bevor man zusammenbricht. Warum braucht’s dennoch einen Sanitätsdienst, müssen trotzdem immer wieder Läufer auf Wettkämpfen behandelt werden? Hier gibt es zwei Faktoren: Einerseits kommt die Anwesenheit vieler Menschen mit stärkerer sportlicher Belastung vieler Menschen zusammen. Wenn zehntausend Menschen durch eine deutsche Großstadt rennen, ein guter Prozentsatz davon Marathon, der Löwenanteil wohl Halbmarathon, kann man sich durchaus klar machen, dass auch ganz unabhängig vom Laufen Menschen Herzprobleme haben und behandelt werden. Sicher sind’s unter Belastung im Wettkampf etwas mehr als zuhause auf dem Sofa, aber der Haupteffekt, der Laufwettkämpfe zum scheinbaren Problem für die Gesundheit werden lässt, ist die Sichtbarkeit. Über einen plötzlichen Herztod auf dem Sofa berichten Bild, Spiegel Online und wer auch immer nicht, über einen beim Marathon schon eher. Es gibt aber noch das stark verzögerte „andererseits“ der angekündigten zwei Faktoren. Ich habe schon viele Menschen gehört, die mir erzählten: „Das lief echt gut beim XY-Halb/Ganz-Marathon! Dabei habe ich gar nicht trainiert!“ Sicher gibt’s den einen oder anderen, der sein Training systematisch untertreibt, ob nun aus Bescheidenheit oder um sich danach selbst auf die Schulter zu klopfen – je nach Eigenwahrnehmung von Talent und Leistung oder dem Gefühl, „ein ganz harter“ zu sein. Ich neige aber dazu, den Menschen zumindest einen Teil dessen abzunehmen, was sie behaupten. Quasi ohne oder zumindest mit nicht adäquater Vorbereitung einen Laufwettkampf zu bestreiten geht sehr viel wahrscheinlicher schief, als wenn man sich an das gewünschte Tempo und die gewünschte Strecke über zwei, drei, vier Monate herangearbeitet hat.
Zu guter Letzt: „Du musst ja viel Zeit haben, wenn du so viel läufst!“ Es mag schwer vorstellbar sein, aber tatsächlich ist der entstressende Aspekt sportlicher Aktivität ein Faktor, der hilft, dass einem die Dinge danach schneller von der Hand gehen. Beim Laufen entzerren sich meine Gedanken, ich überwinde damit oft genug Blockaden in meinem Denken. Die am einfachsten irgendwo einpassbare sportliche Aktivität, das Laufen, kann Teil des Arbeitswegs sein, Teil des Heimwegs von der Arbeit, es gibt nicht viel zu organisieren, nur Laufschuhe und Sportsachen mitnehmen, auf einer Toilette umziehen, Arbeitsklamotten und Handtasche in den kleinen Rucksack und auf geht’s. Zudem: nach einem anstrengenden und vielleicht frustrierenden Arbeitstag – und die gibt’s auch auf den besten Arbeitsstellen – brauche ich mit einem Läufchen eine halbe oder ganze Stunde, um runterzukommen – gehe ich nicht laufen, öde ich meinen Mann und mich selbst die doppelte bis dreifache Zeit mit meinem Frust an. Nicht zuletzt habe ich einige Dinge zu organisieren und zu verschlanken gelernt, um Läufe unterzubringen, und damit Zeitverluste reduziert, die dann an Lauftagen für das Laufen und an Ruhetagen für anderes zur Verfügung stehen. Freilich: In einer intensiven Trainingswoche mit mehr als 90 Laufkilometern geht durchaus einiges an Zeit dafür weg. Aber im Endeffekt ist durch Priorisierung und durch die mental und physisch positiven Effekte für mich eher ein Gewinn an Zeit, wenn ich fünf bis sechs Stunden laufen in der Woche unterkriege, nicht zuletzt, weil ich besser einschlafe und ruhiger schlafe.
Das wurde nun ein ziemlicher Rant. Warum schreibe ich sowas? Mir klingt noch nach, dass die Vermieterin meiner Studentenbude mir von allen möglichen Menschen erzählte, die beim Laufen gestorben sind. Ich lese immer wieder, wenn ich auf der Suche nach anderem bin, doch wieder Berichte, in denen der Bewegungsmangel gegeißelt wird, dann aber doch schon drei Stunden Sport in der Woche als Obergrenze des Gesunden suggeriert werden. Es kann natürlich sein, dass das nur „gefühlt“ ist, aber eine latente Unterstellung von „Laufsucht“ und „so viel kann doch nicht gesund sein“ sowie das Gefühl, mit meiner Lauferei permanent schlechtes Gewissen bei anderen auszulösen, brechen sich halt doch manchmal Bahn.