Eine Gabelung der Evolution?

Manchmal schaue ich auf die Welt, schaue mir die Perspektiven anderer Menschen an und staune. Natürlich klingt es ein bisschen überheblich, über die Perspektiven anderer Leute zu staunen. Aber von Anfang an…

Eine Freundin und ich chatteten heute über meinen Besuch bei der „Radlabor“-Konferenz der Hochschule Karlsruhe. Dort wird zum Thema Radverkehr geforscht, sowohl im Ingenieursbereich, als auch im stadtplanerischen Bereich und natürlich auch ganz stark in der Datenerfassung von Radverkehr – Bedarf, Gefahren, Regeleinhaltung, Gefahrenstellen, Konflikte und sogar Simulation. Dabei kam das Thema auf, wie sich in einem Experiment in Baiersbronn der Modal Split massiv veränderte – aus zuvor 72 % Auto in der Aktionsgruppe, die kostenlos ein Pedelec gestellt bekamen, wurden 28 % Auto und 68 % der Fahrten mit dem Pedelec. Bei der Gelegenheit kamen wir dann auf generelles Verkehrsverhalten. Zur Sprache kamen Extreme wie Menschen, die 20 bis 30 Kilometer (eine Strecke!) zur Arbeit mit dem Rad pendeln, oder gar einzelne Strecken laufend und den Rest mit dem Rad oder dem ÖPNV pendeln auf der einen Seite. Der andere Pol sind dann Leute, die beim Bäcker vor der Tür parken und dann ihr Auto drei Häuser weiter zum Metzger bewegen, und ja, das waren keine aus der Luft gegriffenen Beispiele. An dieser Stelle kamen mir zwei Bilder, zwei… Perpektiven, die sich vor allem darin unterscheiden, ob die Menschheit in zwei Gruppen zerfallen ist, die voneinander wissen, einander gar teils bedingen, aber in vielen Aspekten so unterschiedlich sind, als gehörten sie zwei verschiedenen Spezies an – oder ob das Ganze doch noch ein Spektrum ist, dessen Enden auch ob des kontinuierlichen Übergangs dazwischen doch noch kompatibel sind. Lasst mich erst einmal die Gabelung der Evolution zeichnen.

Man stelle sich vor… ein Mensch erhebt sich morgens aus seinem Bett, setzt Kaffee auf, trinkt diesen, putzt sich die Zähne und sperrt dann die Tür zwischen Flur und Garage auf. Ohne unter freiem Himmel gewesen zu sein, setzt er sich in sein Auto und rollt durch den morgendlichen Verkehr in einen entfernten Ort, stellt sein Gefährt in eine Tiefgarage, fährt mit dem Aufzug ins Büro hinauf und verweilt dort, vor einem Rechner sitzend, geht in die Kaffeeküche, geht zu einer Besprechung in den Konferenzraum. Zum Mittag bestellt die Kollegenrunde Pizza direkt ins Büro. Gegen 17:00 verlässt jener Mensch sein Büro, fährt mit dem Aufzug in die Tiefgarage, steigt ein, fährt nach Hause – kurz vor dem heimatlichen Dorf biegt er auf einen Parkplatz ab, ist das erste Mal an diesem Tag außerhalb eines Gebäudes oder des Autos, erreicht vielleicht seinen 800sten oder 1000sten Schritt an diesem Tag, während er Chips und Bier kauft. Dann trägt er selbiges in sein Auto, setzt sich hinein und fährt nach Hause. Mit der Fernsteuerung lässt er das Garagentor hochfahren, verlässt die Garage durch die Verbindungstür in den Flur, während das Garagentor herunterfährt, und schaltet den Fernseher an. Ein Glück! Das Spiel läuft erst 10 Minuten, freut er sich, während er mit seinem Feuerzeug die erste Bierflasche öffnet und die Chipstüte aufreißt. 1200 Schritte sind auf seinem heutigen Bewegungskonto. Als auf dem Bildschirm der Ball wechselt, zur von unserem Probanden bevorzugten Mannschaft, in Richtung Mittellinie gespielt wird, ein Mittelfeldspieler dribbelt und flankt… unser Proband auf dem Sofa spuckt Chipsreste auf den Tisch, als er in Richtung des Bildschirms brüllt: „Mann, du musst im Sechzehner sein, wenn die Flanke kommt! Das ist zu langsam…“ Wir reflektieren: Selbiger Mensch hat auf dem Supermarktparkplatz das erste Mal freien Himmel ohne Glas davor gesehen, am heutigen Tage vielleicht 1200 Schritte zurückgelegt, und fordert vom Stürmer seiner Mannschaft, in etwa zehn Sekunden von „wir wollen den Ball“ auf „wir haben den Ball“ umzuschalten und mehr als 50 Meter über das Spielfeld zurückzulegen, sich dann auch noch freizulaufen, hakenschlagend, um ungedeckt von einem Verteidiger eine Flanke annehmen und im Tor versenken zu können. Er guckt ein Spiel an, in dem die Spieler acht bis vierzehn Kilometer in einem Spiel laufen, dabei 10.000, vielleicht 20.000 oder mehr Schritte machen, was unserem Menschen auf dem Sofa vielleicht nicht unmöglich ist, vielleicht nicht unmöglich erscheint, aber in der Multiplikation von Unfähigkeit und Unwilligkeit doch niemals passieren wird. Nicht täglich, wie’s der Fußballspieler trainiert, nicht einmal wöchentlich, wie’s unser Mensch beim Fußballspieler tatsächlich sieht, nicht einmal im Jahr.

Sind dieser auf der Couch sitzende Mensch, der offenkundig von den Fußballspieler auf dem Bildschirm etwas erwartet, was für ihn durch Entwöhnung und Unlust unmöglich ist, noch ein und dieselbe Spezies? Können dieses beiden, die ganz offensichtlich in ihren körperlichen Fähigkeiten völlig inkompatibel sind, und das ganz ohne Unfall oder Behinderung, noch in irgendeiner Weise dieselben sein?

Das war ein extremes Beispiel und es war auch zumindest beim Fußballer nicht so auf den Verkehr, auf die Alltagsbewegung fokussiert, wie ich das vielleicht gerne hätte – bei unserem Menschen auf dem Sofa habe ich schon illustriert, wie viel Bewegung im Alltag vermieden wird. Wechseln wir also die Perspektive.

Nehmen wir mal an, da ist ein Mensch, der 1500 Meter zum S-Bahnhof von zuhause zu gehen hat, das auch immer zu Fuß macht. Manchmal muss dieser Mensch diesen Weg sehr schnell zurücklegen, weil unsere Probandin nach dem Tee Trinken einfach nicht in die Gänge kommt. Sie fährt mit der S-Bahn in die Stadt, wechselt dort den Zug, schaut sehnsüchtig auf den nebenan abfahrenden IC nach Westerland („Ich will wieder an die Nordsee…“) und rollt mit einer anderen S-Bahn zum Arbeitsort. Dort hat sie noch fast einen Kilometer zu gehen. Nachdem sie Mittags mit einem Kollegen, der mit dem Rad zum Büro kam, einen halben Kilometer zum Supermarkt gegangen ist, um was zu Essen zu kaufen, und den Nachmittag über weiter gearbeitet hat, zieht sie sich im Büro um, lässt ihren Büroklamotten da – fährt 20 Kilometer mit der S-Bahn an den Bahnsteig, wo sie zuletzt „Westerland“ von den Ärzten gesummt hatte, und rennt von dort einen Halbmarathon nach Hause. Später in ihrem Leben wechselt sie zu einer Arbeitsstätte in der Stadt mit dem Bahnhof, an dem der Zug nach Westerland abfährt, pendelt mit der Bahn und rennt öfter mal ganz vom Büro nach Hause – später pendelt sie fast nur noch mit dem Fahrrad und schafft eigenes Auto und Monatskarte ab.

Unsere Probandin weiß, wie schwer Bewegung fällt, wenn man sich lange kaum bewegt hat, sie ist mal völlig unglücklich Langstrecke mit dem Auto gependelt. Aber sie hat weniger Laufen und Radfahren im Fernsehen angeschaut (auch wenn sie das auch gerne tut), sondern hat es auch und mehr getan. Zehn Kilometer Aktionsradius zu Fuß, dreißig und mehr Kilometer Aktionsradius mit dem Fahrrad hat sie, in ihrem ganz persönlichen Modal Split kommt das Auto gar nicht mehr vor. Sie weiß, dass Spitzensportler, denen sie zujubelt, vielleicht eine Mischung aus Talent und Verletzungsresistenz mehr haben als sie, aber grundsätzlich sind Anna Kiesenhofer, Eliud Kipchoge, Wout van Aert und wie sie alle heißen, keine grundsätzlich unerreichbaren Sagengestalten. Freilich bemerkt sie, wenn jemandem die Kraft ausgeht, er oder sie eigentlich Aufgaben in einem Rennen oder Spiel zu erfüllen hätte – aber sie kennt’s selbst, manchmal geht das einfach nicht. Statt in den Bildschirm hinein zu fordern, bedauert sie, dass es nicht geht. Sie hat bemerkt, dass Menschen, die eher berührbar sind, neben denen sie auf den Veranstaltungen nach Läufen saß, auf deutschen Meisterschaften über zehn Kilometer gelaufen sind, sie hat mit Menschen auf einem Marathon-Podium gestanden (viel weiter unten freilich), die in einer anderen Disziplin Weltmeister waren.

Für mich, die ich eine recht gute Vorstellung vom Potential auch des menschlichen Körpers einer Person hat, die normal arbeitet, erscheint es vom Couch Potato bis zum Spitzensportler als ein kontinuierliches Spektrum. Die Positionierung unserer selbst in diesem Spektrum hängt weit mehr von unserem Willen ab, uns zu bewegen, als von Anlagen und Talenten. Natürlich gibt es Krankheiten und andere Probleme, die einen hier rausnehmen. Aber ein Großteil der Menschen gebraucht „keine Zeit“ für Bewegung sehr gedankenlos. Man kann mit dem Rad zur Arbeit fahren. Man kann sich zum ÖPNV gehend hinbewegen, statt mit dem Auto hinzufahren. Man findet Zeit für einen Spaziergang. Bewegung und Sport lassen sich an vielen Stellen unterbringen, und Bewegung in die alltäglichen Wege einzubringen, schon 100 Meter nicht mit Umparken des Autos, sondern zu Fuß zurückzulegen, spart Energie. Das greift ineinander.

Sind wir nun zwei verschiedene Spezies? Biologisch sicher nicht. Das Potential ist da. Dass wir nicht alle das körperliche und mentale Potential haben, Marathon unter 2:30 zu laufen, die Tour de France zu bestreiten oder Fußball auf hohem Niveau zu spielen, und nur sehr wenige die Chance bekommen, entsprechend intensiv zu trainieren, ist gegeben. Nicht allzuselten höre ich von Menschen, die eigentlich um Weltrekorde im Marathon wissen, dass man „so schnell doch gar nicht laufen“ könne, nachdem ich von Intervalltraining mit 400-Meter-Abschnitten in 1:30 und weniger berichte. Eliud Kipchoge läuft schneller, deutlich schneller, und nicht 400 Meter am Stück, sondern 42,195 Kilometer. Ich höre von Leuten, die das Straßenrennen bei den Olympischen Spielen angeschaut haben, dass vierzig Kilometer Radfahren zur Arbeit und zurück am Tag „irre“ seien, ich höre es so oft, dass ich es selbst auf mich und andere anwende. Wenn ich mir allerdings das am Anfang gezeichnete, zugegebenermaßen überspitzte Beispiel anschaue, möchte ich sagen: Wir sollten in Sachen Bewegung und Sport, in Sachen wissenschaftlichem Denken und Logik, in so vielen Dingen uns nicht in Trägheit suhlen und vermeintliches oder echtes „gottgegebenes“ Talent bewundern, am Ende noch die, die sich all diese Fähigkeiten hart erarbeitet haben, vor dem Fernseher, im Stadion oder an der Strecke dafür verurteilen, wenn’s mal nicht so läuft.

Man kann Zuhause-Arbeit-Zuhause fahren und sich ein bisschen wie bei Lüttich-Bastogne-Lüttich fühlen, man kann von der Arbeit heimrennen, sich wie bei einem Städtemarathon fühlen, beim Einbiegen in die heimische Straße die Hände hochreißen und am nächsten Tag mit der Bahn wieder hinfahren, wenn man keine Dusche im Büro zur Verfügung hat. Man kann zur S-Bahn gehen und wieder zurück, zum Bäcker und wieder heim, man kann einen Lastenanhänger ans Rad hängen und Getränkekästen kaufen oder die Picknickdecke damit zur Wiese befördern. Wenn das Gelände zu anspruchsvoll ist, kann man über ein Pedelec statt ein rein muskelgetriebenes Rad nachdenken.

Es gibt so viele Wege, sich von Sport, für den man sich begeistert, für das eigene Leben inspirieren zu lassen, und oft ist es so, dass etwas zu betreiben – als Hobby- oder Vereinssport, als Verkehrsmittel, was auch immer – in einem Verständnis und Begeisterung für einen bewunderten Leistungssport verstärkt und es befriedigender macht, diesen anzusehen. Denn wir sind eine Spezies, und dass es manchmal nicht so aussieht, ist bei so manchem eben keine krankheits- oder talentlosigkeitsbedingtes Schicksal, sondern schlicht Trägheit.

Referenz an den Radsport

Ich bin zur Zeit viel im Homeoffice, was bei den aktuellen Infektionszahlen nicht verwundert. Ich möchte mir keinesfalls diese Krankheit einfangen, da eben nicht nur die aktuelle Infektion ansteht, sondern auch eine lange Nachwirkung mit massivem Verlust sportlicher Leistungsfähigkeit damit einhergehen kann.

Aber WENN ich zur Zeit zur Arbeit fahre, dann benenne ich meine Touren gerne analog zu Radsport-Veranstaltungen, denn ich war während meiner Teenager-Rennrad-Zeit großer Radsportfan und bin es irgendwie anders weiterhin. So kamen dann die Namen zusammen:

  • Tour du Lieu du Travail (bezogen auf die Tour de France)
  • Vuelta a Trabajo (bezogen auf die Vuelta a España)
  • Giro de Strada par Lavoro (bezogen auf den Giro d’Italia)
  • Werkplaats Gold Race (bezogen auf das Amstel Gold Race)
  • La Flèche Bade (bezogen auf La Flèche Wallone)

Natürlich ist das alles irgendwie albern und in der Kürze der Zeit vielleicht auch mehr eine gut gemeinte als sauber konstruierte Referenz auf die Rennen. Aber es macht mir Spaß, meine Fahrten zur Arbeit hin und von der Arbeit heim so zu benennen. An einer Paris-Roubaix-Referenz für Fahrten zum KIT Campus Nord bin ich noch am herumdenken.

Leider bieten sich solche Radrennen wie Lüttich-Bastogne-Lüttich oder Mailand-Sanremo nur eingeschränkt an, da ich ja doch die Start- und Zielstädte bzw. Dörfer einsetzen möchte, die ich real angefahren habe, und da ist zum Beispiel „Bietje-Elchesheim-Bietje“ nur eingeschränkt mit einem Rundrennen identifizierbar.

Tja, aber dennoch macht mir das Ganze Spaß, auch wenn ich weit davon entfernt bin, so schnell Rad zu fahren, wie ich laufe.

Neunziger-Referenz

Die Zeit, die mein Radsport-Fansein am meisten geprägt hat, waren die Neunziger. Damals habe ich mit Bjarne Riis, Erik Zabel und Jan Ullrich gefiebert, und als ich für die Sommerferien 1997 im Krankenhaus lag, bekam ich Trikots des Teams Deutsche Telekom geschenkt, als Genesungs-Wunsch-Geschenk. Natürlich war’s ein Radunfall gewesen, der mich ins Krankenhaus brachte – was auch sonst.

Aber in der Retrospektive haben Fahrer und Teams meinen Blick auf den Radsport mehr geprägt, oder sind zumindest in der Retrospektive für mich wichtiger geworden. Wie man an früheren Posts zu Retro-Trikots sehen kann, hatte ich ein Faible für das Design der Trikots des Teams ONCE, aber auch ein ziemliches Faible für das Team. Laurent Jalabert, nicht ganz so sehr Alex Zülle, dann wieder ziemlich Joseba Beloki und natürlich auch Jörg Jaksche.

Mir unvergessen aber sind zwei Bergankünfte an ein und demselben Berg, zwei Jahre auseinander, die ebendiesen Berg für eine ganze Weile wesentlich mehr „Legende“ für mich waren, als es die klassischen „legendären Berge“ damals gewesen sind. Nicht l’Alpe d’Huez, nicht der Col du Tourmalet, nicht der Mont Ventoux, nicht der Col du Galibier machten mir Gänsehaut, sondern die Bergankunft in Lourdes Hautacam. 1994 fieberte ich da mit, Luc Leblanc mit Miguel Indurain am Hinterrad die allererste Bergankunft in Lourdes Hautacam gewann, den krankheitsgeschwächten Toni Rominger sowie eine Gruppe von vier oder fünf Bergfahrern das Tempo von Indurain nicht mit konnten. Welch anderes Bild dann 1996, wo Indurain, wie einst sein Dauerkonkurrent Rominger, auf den späteren Toursieger viel Zeit verlor – auf Bjarne Riis, der dort aus einer Fünfergruppe, allesamt durchaus gute Bergfahrer, von der Spitze der Gruppe zum Etappensieg attackierte…

Verbunden sind diese beiden Erinnerungen an Etappen nach Lourdes Hautacam mit einem ganz bestimmten Trikot – dem Banesto-Trikot, in dem Indurain 1994 an diesem Berg schon nicht mehr fuhr (er fuhr da schon in Gelb), 1996 aber eben genau in diesem Trikot der Geschlagene war. Ein Trikot, in dem ich auch Abraham Olano sah, aber erstmals auf dem Bildschirm kam er mir unter, als er eben nicht das Banesto-Trikot trug, sondern das des Weltmeisters… wie dem auch sei:

Turmbergomat

Am Turmberg in Karlsruhe gibt’s den Turmbergomat. Das ist letztlich eine Zeitmessung mit Stechuhr für den Anstieg auf den Turmberg.

Rechts seht Ihr die Rückseite der Stechkarte des Turmbergomaten. Man kann mit dem Rennrad – oder irgendeinem Rad, mit dem Handbike oder auf Schusters Rappen den Berg hinauf, sollte nur die richtige Disziplin ankreuzen. Es gibt Altersklassenwertungen und natürlich Wertungen nach Geschlecht getrennt. Auch die Strecke bzw. das Streckenprofil ist auf der Karte abgedruckt, auf der anderen Seite die Strecke an sich. 1,75 Kilometer sind es, auf denen man rund 115 Höhenmeter bewältigt. Auf Strava wird die Turmbergomat-Strecke als Bergwertung der vierten Kategorie eingestuft, und vermutlich würde das auch bei der Tour de France so aussehen.

Nachdem ich gestern mit Kopfschmerzen in den Seilen hing, habe ich heute, mich wieder besser fühlend, meinen lange gefassten Plan wahr gemacht. Ich habe den Turmbergomaten genutzt. Zuerst bin ich mit dem Rennrad nach Durlach geradelt, über Bruchhausen, Ettlingen und Wolfartsweier. Dann habe ich mein Rennrad gegenüber der Friedhofsgärtnerei am Bergfriedhof in Durlach angeschlossen und bin den Turmberg hinaufgestürmt. Oben fragten ein paar Leute sich, warum da eine Frau stand, die schwer atmend eine Stechkarte fotografierte – denen erklärte ich es dann. Danach lief ich den Turmberg wieder runter und wiederholte den „Climb“ mit dem Rennrad. Anschließend ging es wieder über Wolfartsweier, Ettlingen und Bruchhausen nach Hause.

Wenn ich richtig subtrahiert habe, schlägt mein gelaufener Aufstieg auf den Turmberg mit 8:02 zu Buche, die Radfahrt mit 6:42. Tatsächlich war ich beim Radeln wohl etwas schneller, aber gerade als ich stach und losfahren wollte, kam ein Auto – und oben versuchte ich erst sekundenlang, die Stempelkarte im Einwurfschlitz für abgestempelte Karten abzustempeln. Naja, so ist das nunmal. Nächstes Mal weiß ich es besser, bin dafür aber vielleicht etwas langsamer. Oder mir fällt die Stempelkarten auf dem Climb aus der Trikottasche. Irgendwas ist ja immer!

Auf der Abfahrt vom Turmberg stellte ich allerdings auch etwas fest: Mein Rennrad braucht wohl innerhalb der nächsten zwei, drei Wochen eine Wartung. Ein Pedal knackt, muss vermutlich mal nachgezogen werden – vor allem aber sind die Bremsklötze hinten ziemlich durch. Nun bin ich erstmal gespannt, ob Montag oder zumindest im Laufe der kommenden Woche meine Ergebnisse auf der offiziellen Rangliste des Turmbergomaten erscheinen oder ob ich beim Ausfüllen irgendwelchen Mist gebaut habe.

Ist es nicht seltsam…

…das von etwas, das in den Neunzigerjahren im Fernsehen und dort wirklich ikonisch war, nicht auf die Schnelle ein Video auf Youtube aufzutreiben ist?

Was hat sie denn nun wieder, werdet Ihr fragen. Ikonisch… sicher irgendwas mit Science Fiction oder so, bevorzugt im abseitigen Bereich. Nein.

Ich habe die Begriffe „Manolo Saiz Venga Time Trial“ gesucht. Das, was man damals in den Neunzigern sah, wenn diese Begriffe zusammen fielen, fand ich nicht als Video, sonst hätte ich es gerne hier verlinkt. Deswegen muss ich es in Worten nachzeichnen, DARF ich es hier in Worten nachzeichnen.

Einzelzeitfahren, Tour de France. Ein Fahrer in einem rosanen Trikot mit einem Strichmännchen mit Blindenstock darauf auf einer Straße, schräg hinter ihm ein Begleitfahrzeug mit ganzen Rennrädern, Laufrädern, Equipment auf dem Dach. Vielleicht ist es Alex Zülle, der da Einzelzeitfahren fährt, vielleicht Joseba Beloki, in jedem Falle ist es der Fahrer des ONCE-Teams mit der besten Chance, auf das Podium der Tour de France zu fahren. Aus dem hinteren Fenster des Begleitfahrzeugs hängt ein Arm, ein halber Mensch heraus, der ein Megaphon in der Hand hält und in unendlicher Folge, immer wieder, dauernd, nur ein Wort brüllt:

„Venga! Venga! Venga!“

Skurril ist das, aber Manolo Saiz, der sportliche Leiter des ONCE-Teams, tat das durchaus ganze Einzelzeitfahren lang. Keiner seiner Schützlinge hat das gelbe Trikot nach Paris getragen.

Später wurde aus ONCE das Team ONCE – Eroski, dann ONCE – Deutsche Bank, zuletzt dann Liberty Seguros. Dann wurden Manolo Saiz und sein Team von Verstrickungen in die Doping-Netzwerke um den Arzt Fuentes weggespült. Ich habe gelitten unter diesem zusammenbrechenden Kartenhaus aus Doping, Leugnen und Lügen. Und doch bleiben Erinnerungen an ein Einzelzeitfahren, es muss tatsächlich damals noch Zülle gewesen sein, dem Manolo Saiz ein ganzes Einzelzeitfahren lang aus dem Megaphon vom Begleitfahrzeug her nur ein Wort in den Rücken brüllte: „Venga!“ Und wenn er’s nicht getan hätte, es wäre immer noch eine gute Geschichte.

Gelesen: Tim Krabbé – Das Rennen

Da ich nun Rennrad fahre – genau genommen ja WIEDER Rennrad fahre, wurde mir von Ma San ein Buch empfohlen. Es geht um „Das Rennen“ von Tim Krabbé, in der deutschen Übersetzung. Bereits die ersten Zeilen, die durchaus öfter mal zitiert werden, hatten mich:

„Meyrueis, Lozère, 26. Juni 1977. Warm, bewölkter Himmel. Ich nehme meine Sachen aus dem Auto und setze mein Fahrrad zusammen. Von Straßencafés aus schauen Touristen und Einwohner zu. Nicht-Rennfahrer. Die Leere in ihrem Leben schockiert mich.“

Aus: Tim Krabbé – Das Rennen

Das gilt allerdings nicht nur für das Radrennfahren. Auch Laufwettkämpfe haben so einen Sog und so ein Gefühl des Abgehobenseins, auch wenn das Rennrad mit all seiner Technik und auch der Rennzirkus des Radrennens es betonen. Ich selbst bin – vor langer Zeit – nur ein Rennen gefahren. Es war das Scheuerbergrennen in der Nähe von Heilbronn, ein Einzel-Bergzeitfahren über eine nicht allzu große Distanz und nicht allzu viele Höhenmeter. Ich habe es nicht gewonnen, aber mein Teenager-Ich schnitt für den damaligen Anspruch ganz gut ab. Aus Überanstrengung nahm ich eine Fanta zu mir, nachdem ich über den etwas flacheren Gipfel gesprintet war, und kotzte sie instantan wieder in die Büsche.

Wenn ich den obigen Absatz so lese, frage ich mich: Klang ich auch vor der Lektüre von „Das Rennen“ schon so, oder kam das erst dadurch?

Was in „Das Rennen“ passiert, ist erstaunlich schnell gesagt: Tim Krabbé nimmt, als Amateurradfahrer, an einem bergigen, schweren Radrennen in den französischen Cevennen teil. Es ist die Mont-Aigoual-Rundfahrt, deren namensgebender Berg in der Tour de France 2020 als Bergankunft Etappenziel war. Dazu beschreibt er Rennfahrertypen, Rennsituationen und seine Taktik, seine Gefühle, seine Einstellung in greifbaren Begriffen und über Anekdoten und Exkurse.

Klingt simpel? Ist es auch! Aber in diesem simplen Konzept, in dem ein Haufen Erfahrung mit Radrennfahren und ein Haufen Einfühlung in den Radrennsport und seine Geschichte, seine Gestalten stecken, liegt Genialität. Für mich, die ich selbst in den Neunzigerjahren den Profiradsport verfolgt und bejubelt habe, 2004 dann schließlich in L’Alpe d’Huez beim Contre la Montre an der Außenseite einer Serpentine, in Sichtweite der „Flamme rouge“ den Schweiß der Rennfahrer abbekam, war das Buch wohlige Nostalgie, das Lernen von Anekdoten und gestalt-, ja, wortgewordene Offenbarung dessen, was einem auf dem Rennrad, selbst ohne Rennen, aber mit der Erfahrung von Laufwettkämpfen intus, so durch den Kopf schießt.

Tim Krabbé charakterisiert die Leute, mit denen er fährt, gegen die er fährt, vergleicht sie mit bekannten Gestalten. Durch eine gewisse Hingabe zum Verfolgen der Tour de France in den Jahren, in denen ich selbst hobbymäßig fuhr und auch später noch, waren mir Fahrer wie Bernard Hinault, Jacques Anquetil, Lucien van Impe, Federico Bahamontes, Gino Bartali und Fausto Coppi schon ein Begriff, Eddy Mercks natürlich auch. Wie wichtig die Psychologie, die Taktik und das Gefühl sind, und wie sehr sie einander widersprechen und doch zusammenwirken, das charakterisiert und karikiert Tim Krabbé oft in wenigen Sätzen eines Absatzes. Eben noch spricht die Vernunft, geißelt den Angriff eines Mitfahrers, Gegners als sinnlos und zu früh, im nächsten Moment wird sich Krabbé bewusst, dass er selbst gerade angreift und dass es gut ist! Auch das schnelle Wandeln vom Gegner im Feld zum Verbündeten in der Ausreißergruppe wieder zum Gegner beim Sprint, auch das zeichnet er in einer Weise nach, die der Faszination einer schweren Bergetappe der Tour de France erklärt, aber nicht entzaubert.

In der Mischung aus Anekdoten und dem Drama eines Rennens, in dem die Chancen hin und her wogen, fängt Tim Krabbé die Faszination Radsport in einer Weise ein, die sonst wohl nur für jemanden, der zumindest Ausdauersport-Rennen und Rennradfahren kennt, zugänglich wäre.

Die Fortsetzung des Anekdotischen aus „Das Rennen“ begleitet mich gerade in Form von Tim Krabbés „Die Vierzehnte Etappe“, aber ohne die Mont-Aigoual-Rundfahrt als Kulisse ist es nicht ganz so das, was „Das Rennen“ in mir weckte. Zugleich schießen mir selbst ein Haufen Anekdoten durch den Kopf… aus meinem eigenen Nicht-Rennen-Rennradfahren früher und heute, aber auch aus dem Schauen von Radrennen. Wohlig eingepackt, in sportliche Faszination und Nostalgie.

Retro-Feeling

Es ist komisch.

Ich fahre seit 8 Monaten wieder Rad, eigentlich sogar etwas länger. Ich habe seit über zwei Monaten ein Rennrad. Eigentlich hätte ich längst über all das stolpern müssen, das mir nun durch den Kopf geht. Eigentlich.

Aber es war erst diese Woche, dass ich plötzlich all die Gedanken an den Radsport, den ich in meinen Teenagerjahren verfolgte, wieder denke. Ich schaute auch in meinen Zwanzigern noch gerne die Tour de France und die Vuelta a España an, manchmal auch gerne einen Klassiker. Nur Paris-Roubaix eher nicht, das tat mir irgendwie weh. Heute nun kam mir wieder ein weiterer Gedanke…

Und so schaute ich mich mal um. Es ist ja so gewesen, dass ich im Juli 1997, mit 17 Jahren, wohl auf dem damaligen Gipfel meines Rennradfahrens war. Ich war das Scheuerberg-Rennen mitgefahren, wurde auch langsam flotter, lernte Dinge über das Windschattenfahren und dergleichen. Rennrad-Instinkte stellten sich ein. Da fuhr ich eines Abends, um meinen Vater an der Waldschenke zwischen Bad Wimpfen und Obereisesheim zu treffen, hinter unserem Haus den asphaltierten Feldweg hinunter und fuhr vor einen Geländewagen.

Im Krankenhaus bekam ich zwei- oder dreimal dasselbe Geschenk. Es war 1997, das Jahr, nachdem im Trikot des Teams Deutsche Telekom Bjarne Riis die Tour de France gewonnen hatte, das Jahr, in dem ein junger Fahrer namens Jan Ullrich eigentlich für Bjarne Riis‘ zweiten Tour-Sieg arbeiten sollte, sich aber als der besser in Form befindliche Fahrer erwies. Es war 1997, bevor all die Dopingskandale mir den Radsport verleideten. Das Jahr, in dem Jan Ullrich sich auf der breiten Passstraße nach Andorra Arcalis immer wieder umsah, ob seine Verfolger bereits zu sehen waren, und doch eine leere Straße sah. Es war das Jahr, in dem in Deutschland die Radsportverrücktheit neue Höhen erklomm, weil ein Deutscher in einem deutschen Team die Tour de France als Gesamtsieger gewann und ein Deutscher in einem deutschen Team die Punktewertung der Tour de France gewann – Jan Ullrich und Erik Zabel. Heute sind beide von Doping-Skandalen gerupft, damals waren sie Helden. Meine Helden!

Das Genesungsgeschenk, das ich damals zwei- oder dreimal erhielt, als ich im Krankenhaus lag und meinen knöchernen Bandabriss wieder angeschraubt bekam und mich danach dort erholte, war ein Trikot des Teams Deutsche Telekom.

Es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der man sich noch wesentlich einfacher der Illusion hingeben konnte, dass EPO, Steroide und Cortison im Profi-Radsport Ausnahmen seien, eine Zeit, in der keiner den Begriff des Eigenblut-Dopings kannte und eine Zeit, in der noch nicht klar war, wer Dr. Fuentes war.

Ich erinnere mich an all diese Dinge, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. Ich verunglückte auf dem Fahrrad damals während der Tour de France 1997, während der legendären drei Wochen im Juli – auf meinem persönlichen Kalender am Mittwoch der vorletzten Schulwoche vor den Sommerferien in meinem elften Schuljahr, dem letzten Jahr vor der Kurssystem-Oberstufe. Ich weiß gar nicht, ob ich Jan Ullrichs Fahrt nach Andorra Arcalis vor oder dann im Krankenhaus sah. Ich erinnere mich aber nun auch wieder sehr deutlich, wie ich 2004 vor meiner letzten Hauptdiplomprüfung in Physik für mich selbst ein Belohnungssystem aufsetzte:

„Schaffst Du es, gehst Du in die Stadt, holst Dir eine Flasche Sekt und haust 10 Euro auf den Kopf, wird’s eine drei, mach‘ 20 Euro draus – bei einer zwei dann 50 Euro.“ Ja, es waren bescheidene Studienzeiten. Aber dann kam die Ergänzung: „Wird’s eine eins, vergiss die Flasche Sekt. Fahre zum Supermarkt und lade Dir Dein Auto mit haltbarem Essen und Getränken voll – und fahre zur 16. Etappe der Tour de France, zum Berg-Einzelzeitfahren… zum Contre la Montre nach l’Alpe d’Huez.“

Ich bekomme Gänsehaut, während ich das schreibe. Es war ein Gefühl, ein Happening. Ja, ich habe mein Experimentalphysik-Hauptdiplom mit einer eins abgeschlossen, bin direkt danach nach Hause, fuhr zum größten Supermarkt in Karlsruhe und lud mein Auto mit haltbarem Essen und Getränken voll. Dann machte ich mich auf den Weg. Am frühen Abend fragte ich in Basel auf einer Stadtstraße einen alten Schweizer, wie ich abseits der gebührenpflichtigen Autobahnen nach Genf käme. Eine junge Schweizerin übersetzte die mir unverständliche Antwort. Nach einer langen Odyssee entlang des Lac du Neuchatel landete ich in Genf und kreiste fast zwei Stunden – zwischen halb drei und halb fünf Uhr früh, bis ich einen gebührenfreien Weg nach Frankreich fand. In der Mittagshitze fand ich mich schließlich auf einem Parkplatz an einer kleinen Industrieanlage, direkt an der Romanche, einige Kilometer vor Bourg d’Oisans wieder. Am nächsten Morgen lief ich ein Stück nach oben, bestieg einen Bus und fuhr halbwegs planlos den Berg hoch… über einen anderen Skiort fuhr ich mit dem Lift hoch und dann wieder runter nach l’Alpe d’Huez. Etwa 200 Meter vor der „Flamme Rouge“, dem Teufelslappen 1000 Meter vor dem Ziel, fand ich einen Platz an der Strecke, direkt am Ausgang einer steilen Kurve, auf der Außenseite. Neben mir Belgier auf der einen, Franzosen auf der anderen Seite. Drei, vier, fünf Stunden standen wir mit wenig Wasser und viel Vorfreude in der Sonne, dann zogen sie im Dreiminutentakt an uns vorbei: All die Fahrer der Tour de France, ich hätte sie fast berühren können, bei manchen spürte ich die Schweißspritzer auf der Haut. Ausgemergelt wie er war, blieben mit von Marco Pantani nur die riesigen Ohren in Erinnerung, und der kämpfende, aber gegen Lance Armstrong verlierende Ivan Basso tat mir so leid.

Mit dem Sonnenbrand meines Lebens kehrte ich zu meinem Auto zurück. Himmel, ist das lange her!

All die schönen Erinnerungen an eine fast vergessene Zeit als Radsportfan werden von meiner neuen Rennrad-Hobby-Karriere wieder an die Luft gelassen. Und das ist auch das, wonach ich mich umschaute, vor gefühlt unendlich vielen Absätzen: Ich habe mir heute über Ebay zwei Trikots im Stile des ONCE-Teams bestellt, das ONCE-Team, wie es aussah, als Laurent Jalabert und Alex Zülle dort fuhren, bevor andere Sponsoren dazukamen, bevor man Manolo Saiz‘ Verstrickung ins Doping wusste. Eins in rosa wie bei „der Tour“, eins in gelb. Kann dauern, bis sie da sind. Dazu stellte ich fest, dass „Jaja“, also Laurent Jalabert, den ich für seine Wandlung vom sprintenden Gewinner des grünen Trikots bei der Tour zum Sieger im Bergtrikot und für sein bescheiden-sympathisches Auftreten bewunderte, auf Strava ist – und klickte gleich mal drauf, ihm zu folgen.

Ich kann immer noch sagen, dass eine Berg-Etappe eines großen Rundfahrt-Rennens zum spannendsten gehört, was ich beim Sport im Fernsehen anschauen erleben kann. Nur Eiskunstlauf und American Football kommen für mich da ran. Und dann erst das kurze, heftige Gewitter des Massensprints… auch wenn da natürlich mit hineinspielt, was vor kurzem bei der Polen-Rundfahrt passiert ist, und es mir etwas vergällt.

Lang ist das alles für mich her – und doch nun wieder aktuell. Ist das nicht merkwürdig, wunderbar und vielleicht ein bisschen erschreckend zugleich?

Luft nach oben

Ich habe heute mal sportliche Zwischenbilanz eines Monats gemacht, in dem ich durch eine Erkältung ausgefallen und nun erst langsam am wieder Aufbauen bin. Dabei habe ich mehrere Dinge festgestellt.

Erstens hat mich meine Erkältung natürlich Kraft und Kondition gekostet, die ich nun wieder aufbauen will. Ein wenig nervig ist, dass das eigentlich ziemlich tolle Trainingsassistenz-Programm meiner Garmin Fénix die anstrengend gelaufenen letzten paar Läufe als „unter der Form“ interpretiert hat, und nicht als krankheitsbedingten Formverlust, und der Formverlust jetzt erst bescheinigt wird, wo es nach meinem Empfinden wieder aufwärts geht. Naja, es ist auch zu viel verlangt, dass so ein Programm Krankheit versteht, es soll das Training unter normalen Bedingungen verstehen.

Zweitens habe ich realisiert, dass aufgrund meiner Krankheit und der entsprechenden Pause mein selbstgestecktes Kilometerziel für Januar beim Laufen völlig illusorisch geworden ist. Ich habe es ein ganze Stück runterkorrigiert und somit habe ich Luft nach oben beim Laufen in den kommenden Monaten. Beim Radfahren hingegen… ich habe heute fast die Hälfte meines selbstgesteckten Zieles an Kilometern mit dem Rad erreicht – in EINER Tour von nur etwas über zwei Stunden.

Es ist schon krass: Beim Laufen habe ich ein heftiges Niveau erreicht, das durch die Erkältung einen starken Rückschlag erlitten hat. Meine Ansprüche beim Laufen sind dem erreichten Niveau angemessen und die Erkältung schlägt dahingehend ziemlich rein. Beim Radfahren dagegen reicht die beim Laufen aufgebaute, durch die Erkältung reduzierte und nun langsam wieder steigende Kondition lässig aus, um am Sonntagnachmittag trotz eines 24-Kilometer-Laufes am Morgen die Hälfte des Monatszieles fast zu erreichen.

Die Tagesbilanz lautet: 24 Kilometer laufen in 2:15 und 35 Kilometer Fahrrad fahren in ebenfalls 2:15. Und egal, ob Physio TrueUp auf meiner Garmin sagt, dass ich Form verliere: Ich merke, es geht wieder aufwärts, und freue mich drüber. Ist eben doch nur eine automatische Assistenz und nicht mein Körpergefühl.

Der innere Udo Bölts

Es gibt öfter Momente beim Laufen, da denke ich mir: „Mäh! Ich kürz‘ jetzt ab. Ich geh‘ jetzt nach Hause, statt durchzulaufen. Willnicht. Kannnicht. Gehtnicht.“ Nun ja. ÖFTER ist der falsche Begriff. Manchmal gibt es diese Momente. Selten, aber dann mit Macht.

In diesen Momenten höre ich erstmal in mich hinein. Warum passiert das jetzt? Habe ich zu wenig getrunken? Das hatten wir schonmal. Nach dem Lauf, den ich dann zwar laufend, aber zunehmend schleppend beendet habe, ging es mir einen Tag lang schlecht. Richtig schlecht. Fehlt’s vielleicht an Energie? Auch das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Es gibt noch andere Dinge, die man dann rasch durchgeht – zum Beispiel auch den Darm, der ja durch die chronische, aber gut im Griff befindliche Krankheit auch beachtet sein will.

Ist es aber nichts davon, greift er. Der innere Udo Bölts. Natürlich taugen die bekannten Fahrer des Radsports der Neunzigerjahre nur noch bedingt als die Helden, als die Rennradfahrer gerne porträtiert werden – das Doping hat eine tiefe Schneise in den Sport gezogen. Es gibt solche, die überführt wurden, solche, die’s zugegeben haben und solche, bei denen man annimmt, dass sie einfach geschickter – krimineller waren. Udo Bölts hat’s zugegeben, aber wahrscheinlich auch vor allem deswegen, weil ihm klar wurde, dass es rauskommen würde. Deswegen will ich die beiden Beteiligten an der Szene, die mich seit dem damaligen, begeisterten Schauen der Tour de France begleitet, nicht zu Helden hochstilisieren. Dass ich aber Straßenradrennen als mit das Spannendste, Interessanteste zum Anschauen im Sport empfinde, das ich mir vorstellen kann (neben Eiskunstlaufen und American Football), daraus möchte ich genauso wenig einen Hehl machen. Also zurück zur Szene.

Der innere Udo Bölts also. Damals, 1997, war in meiner Familie zumindest bei meinen Vater und mir das Radsportfieber in vollem Gange. Mein Vater hatte das Rennradfahren angefangen, weil er wegen seiner Muskeldysbalance im Knie nicht zur Krankengymnastik wollte – und so fuhren vor allem mein Vater und ich, aber auch meine kleine Schwester den größten Teil der 90er-Jahre über Rennrad. Es war das erste Mal, dass ein Sport mich wirklich begeisterte – zum Selbstmachen und Zuschauen. Tour de France schaute ich mit Begeisterung – schon zu Zeiten eines Miguel Indurain, dann die Siege von Bjarne Riis und schließlich Jan Ullrich. Leider hatte ich 1997 meinen Radunfall – ein Geländewagen erwischte mich auf einem Feldweg, die Schuld lag bei mir, der Geländewagen war von rechts gekommen. Gesehen und gehört hatte ich ihn dank eines Maisfeldes und leichten Windes nicht. Bei jener Etappe durch die Vogesen, auf der die berühmte Szene passierte, lag ich im Krankenhaus mit einem knöchernen Bandabriss, schaute unablässig Tour de France und bekam zwei Trikots des Teams Telekom geschenkt, um mich zu trösten – eines von meinen Klassenkameraden, eines von meiner Familie. Und so bekam ich die Szene mit – in den Vogesen hatte Jan Ullrich, Gesamtführender im gelben Trikot, späterer Gesamtsieger, bei der Verfolgung einer Ausreißergruppe eine Schwächephase. Udo Bölts als Helfer des Teamkapitäns motivierte ihn mit dem Satz:

Quäl Dich, Du Sau!
Udo Bölts zu Jan Ullrich, Tour de France 1997

Und so tritt, wenn ich mal schwächele beim Sport, mein innerer Udo Bölts in Aktion und ruft mir zu: „Quäl Dich, Du Sau!“ Nun ja. Und dann geht’s meistens wieder.