Mein Unterbewusstsein ist eitel. Aufgrund der einen oder anderen Quelle, die ich am Ende dieses Beitrages nennen werde, schickte es mir in der Nacht von Freitag auf Samstag einen Traum, dessen Fragmente, an die ich mich erinnerte, ich im Wachsein mit Elementen meiner Erinnerung verwoben habe… heraus kam das Folgende:
Ein Traum
Ich laufe. Seit Stunden laufe ich… doch nun nähert sich mein Lauf seinem Ende, ich weiß es. Eben bin ich rechts abgebogen, zwischen der Europahalle zu meiner Linken und dem Europabad zu meiner Rechten laufe ich hindurch. Leute rufen meinen Namen, manche haben ihn von der Startnummer abgelesen, andere sind wegen mir hier, hinter den Absperrungen. Da vorne kommt eine Treppe, nicht?
Nein, da kommt keine Treppe, die Strecke führt über die Fahrradrampe hinunter, auf den Parkplatz hinunter. Ich schaue auf meine Uhr – 4:10 pro Kilometer, ich bin etwas langsamer geworden. 41,95 Kilometer… auf die Zeit zu schauen traue ich mich nicht. Ich weiß, die abgelaufene Zeit, sie steht links neben der Pace auf dem Display, unter der gelaufenen Strecke, aber ich bin hinreichend erledigt – und euphorisch – um es zu schaffen, nicht darauf zu schauen. An den Absperrungen stehen sie, drei, vier Reihen, rufen, feuern an. Ich sehe zwei rot-gelbe Trikots meiner Sport Löwen Baden, sie jubeln mir zu, rufen eine Zeit. Ich verstehe sie nicht, will sie noch nicht verstehen. Vor mir läuft jemand über die Strecke, hebt ein rot-weißes Flatterband, das in eine Kette geflochten ist. Wie jetzt?!?
Ach so. Der Übergang. Eine Insel aus Absperrungen haben sie in die Strecke gebaut, ein Kanal aus Absperrungen führt geradeaus daran vorbei, der andere in einer Rechtskurve. Abwechselnd sperren sie die eine, dann die andere Seite, damit die Leute rüber können, ohne die Strecke zu unterbrechen. Auch die, die auf der Verkehrsinsel in der Strecke darauf warten, die Strecke vom Stadion weg zu überqueren, jubeln mir zu. Die „Verkehrsinsel“ – gleich geht es ins Stadion… in meinem Kopf ein Geräusch: Klaviertöne – Dim-Dim-didim, dim-dim-didim…
Kein Blick mehr auf die Uhr. Ich zupfe an meinem gelb-roten Trikot, habe den Eindruck, es ist über die Laufhose hochgerutscht… das „Picard-Manöver“. Aber nein, mein Trikot sitzt gut, es ist nur patschnass. Ich fühle die Magneten, die die Startnummer halten. „M1701“ steht darauf, ich sehe es nicht, aber ich weiß es. Der Magnet unten rechts ist da, der unten links auch. Die oberen müssen auch da sein, dennoch taste ich danach. Sind es jetzt die schwarzen mit dem „Never give up!“ darauf oder die pinken mit der Läuferinnensilhouette? Die Pinken, sie müssen es sein. Ich schaue aber nicht nach. Es reicht mir zu sehen, dass die schwarz-neongrünen Escalante Racer an meinen Füßen noch da sind. Klaviertöne: Di-di-dididiii-diii-dim…
Ich biege in die letzte Rechtskurve, hinein ins Beiertheimer Stadion, rechts der Beginn der Tribüne, links die Mauer. Durch diesen schmalen Durchgang laufe ich. Die Rasenfläche ist voller Halbmarathonis, glückliche Finisher. Ich laufe… ich laufe immer noch! Gleich bin ich da! Quälend langsam verschiebt sich mein Sichtfeld, die Bühne für die Siegerehrung kommt in Sicht, daneben muss gleich die Zielgerade, das Ziel in Sicht kommen, am Ende der Tartanbahn. Bilde ich mir die Klaviertöne wirklich nur ein?
Die Zielgerade, ich überblicke sie nun völlig. Auf der Tribüne stehen Leute auf, wollen die etwa gehen, wo ich nun reinkomme? Irgendwo da müssen sie sein, mein Mann, mein Vater, Freunde, Vereinskameraden, Kollegen… aber mein Blick wird mehr zum Tunnel. 2:53:57 steht in großen, roten, digitalen Ziffern auf der riesigen, schwarzen Anzeige neben dem Ziel. 2:53:58…59… 2:54:00. Ich höre eine Stimme: „Each day I live / I want to be…“
Ich sehe die Tartanbahn, gleich laufe ich am Ende der Nordkurve auf die rostrote Bahn. Ich sehe die Bahn, die Absperrung, die Uhr. Auf der Tribüne schwillt Jubel an. Die Durchsage des Stadionsprechers verstehe ich nicht, nicht ansatzweise. Geht es da um mich? Zwei männliche Marathonis sind vor mir noch auf der Strecke, ich überhole Nachzügler des Halbmarathons. 2:54:10…11…12. Die spielen das nun nicht wirklich, genau jetzt, jetzt gerade? „A day to give / the best of me“
Von den Knochensteinen geht es auf die Tartanbahn. Ich spüre, wie der Boden anders federt. Greife ein letztes Mal an meinen Pferdeschwanz, zupfe die Haargummis fester, nun wippen die Haare wieder, zumindest die, die nicht aus der Frisur entkommen sind. Ob’s zu fest ist? Egal, in 120 Metern ist es rum, soll der Rücken sich doch davon verspannen! Warte mal, wird das nicht knapp mit der Musik? 2:54:19…20…21. „I’m only one / but not alone / my finest day / is yet unknown“
Sie spielen es wirklich und es wird knapp. Aber der Jubel, die Freude um mich herum – ich bin bald da, ich habe es bald geschafft. Noch sind es nicht 2:55… Wahnsinn! Klar ist der Baden-Marathon flacher als der TCS-Marathon in New York, aber „Jaja“ ist in New York 2:55 gelaufen, ich kann noch darunter bleiben. Ich habe eine Chance, es sagen zu können. Was sagen zu können? Egal, sie jubeln. Es ist mir egal, dass drei Nachzügler des Halbmarathons nebeneinander laufen und ich erstmal kurz auf 5:00 pro Kilometer runter muss, um eine Lücke zu finden. 2:54:25…26…27. „I broke my heart / fought every gain / to taste the sweet / I face the pain“
Mann, die spielen es wirklich! Ich setze einen Fuß vor den anderen, die Halbmarathoni-Gruppe vor mir macht eine Lücke auf für mich, erschrocken, dass da wer auf leisen Vorfußläufersohlen heransprintet. Dann brüllen sie mir zu: „Du schaffst es! Noch 100 Meter!“ Hundert, denke ich mir? Quatsch, bestenfalls 75, eher 65! Mein Gott, die rufen meinen Namen. Da vorne, was machen die denn da? Gibt’s jetzt etwa eine Verkehrsinsel am Zieleinlauf? Ein Band heben sie hoch, spannen es unter dem Zielbogen… 2:54:38…39…40. „I rise and fall / yet through it all / this much remains“
Habe ich verpasst, dass sie meinen Namen durchsagen? Haben sie mich verpasst? Nein… „Talianna Schmidt…“ Mehr verstehe ich nicht. Einer tritt fast in meinen Weg, was will der? Aber meine Hände greifen automatisch zu… eine rot-gelbe Fahne… das Motiv wird schon stimmen. Ich halte sie hoch, hoffentlich richtig rum, spüre, wie sie sich hinter mir entfaltet, reiße unwillkürlich die Arme dabei hoch, damit jeder die Fahne sieht. Ich müsste den Kopf mehr drehen, um die Uhr nicht aus dem Blick zu verlieren… 2:54:46…47… die letzten paar Meter, die Uhr sehe ich nicht mehr, aber das Band, in das ich hineinlaufen, das ich zerreißen soll. „I want one moment in time / when I’m more than I thought I could be“
Ich zerreiße das Band! Es federt mich nicht zurück auf die Strecke, wie ich erst dachte… soll ich mir eine Finisher-Medaille nehmen? Nein, sie weichen zurück, ich soll weiter laufen, quasi Ehrenrunde… ich trage die Baden-Fahne um die Kurve auf die Gegenbahn, sie jubeln mir zu, jemand brüllt: „Zwei-Vierundfünfzig-Dreiundfünfzig! Schneller als Jalabert beim New York Marathon“ Aus den Lautsprechern jubelt Whitney Houston: „When all of my dreams are a heartbeat away / and the answers are all up to me / give me one moment in time / when I’m racing with destiny / then in that one moment in time / I will feel / I will feel eternity“
Abspann
Nein, das ist keine Realität gewesen. Meine bisherige Marathon-Bestzeit ist 3:18:33, auch wenn ich seit dem meine Zehnkilometerbestzeit von 40:05 vor der Marathonbestzeit auf inzwischen 38:41 verbessert habe, so einen schnellen Marathon bin ich noch nicht gelaufen. Auch wenn meine durchschnittliche Trainingsstrecke gewaltig angewachsen ist, ich also mein Tempo wahrscheinlich besser auf die Marathondistanz umsetzen kann und auch wenn ich beim Aufstellen dieser Bestzeit von 3:18:33 wegen schmerzender Zehen, die zu sehr in die Zehenboxen der Schuhe geschwollen waren, etliche Minuten auf den letzten zehn Kilometern verloren hatte, sind die 3:00:00 noch nicht erreicht, noch nicht in Reichweite. Das ist nur mein eitles Unterbewusstsein, das mir diesen Traum geschickt hat und den ich im Wachzustand aufgeschrieben und vielleicht ein bisschen ausgeschmückt habe.
Quellen für diesen Traum sind:
- Das Video von „One Moment in Time“ mit all den Szenen von den Sommerspielen in Seoul, das ich mir Freitagabend angeschaut habe.
- Das Wissen, dass ich langsam wirklich in Richtung des Traumes eine Sub-Drei-Stunden-Marathons trainiere und die Erkenntnis, dass ich mir das allmählich wirklich zum Ziel gesetzt habe.
- Die Erinnerungen an zwei Teilnahmen beim Baden-Marathon auf der Marathondistanz.