Entstressen

Am gestrigen Abend hätte ich eigentlich einem meiner Hobbies frönen wollen. Es war wieder einmal Teezeremonie-Übungsstunde – Okeiko, auf Japanisch. Allerdings hatte die Autobahn trotz zwei Stunden Puffer zwischen Ende der Arbeit und Beginn der Stunde etwas dagegen. Die eigentlich nur sechzig Kilometer nach Karlsruhe legte ich unter Umgehung eines Staus auf der A8, der mehr als anderthalb Stunden Verzögerung bedeutet hätte, auch nicht viel schneller als auf der Autobahn zurück. Im Endeffekt brauchte ich über drei Stunden nach Hause, wäre also erstens zu spät, zweitens total von einer Ochsentour aus „Stop and Go“ gestresst bei Matsushima-sensei angekommen. Das hätte für mich und auch für den Rest der Gruppe die Stunde schlecht gemacht – also habe ich von einem Parkplatz unterwegs telefonisch abgesagt und bin direkt nach Hause gefahren. Nun merkte ich, dass mein Kopf und die Eindrücke der Fahrt mir den Abend verderben wollten – also musste ich etwas dagegen tun.

Wie Ihr es sicher schon ahnt: Ich ging laufen. Teezeremonie-Übungsstunde ist zwar sehr entspannend, aber dafür brauche ich Konzentration. Zum Laufen nicht. Es war zwar schon dunkel, aber wofür gibt es Straßenlaternen auf verhältnismäßig belebten Wegen durch das Dorf? Vor einer dieser Straßenlaternen, nach mehr als fünf absolvierten Kilometern, entstand dieses bewusst nicht geblitzte Bild:

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Irgendwie fand ich diese von der gelblichen Straßenlaterne vor der Gärtnerei von hinten beleuchtete Silhouette meiner selbst ziemlich lustig, daher habe ich auch den Blitz ausgelassen, auch wenn ich eigentlich mein Gesicht ablichten wollte. Der Lauf hat auch bewirkt, was er sollte: Mit 5,5km und knapp 6:00/km trotz Schießen mehrerer Fotos ohne die Aktivität zu pausieren kam ich danach recht beruhigt an und konnte in aller Ruhe mit meinem Mann den Film „The Voyage to the Bottom of the Sea“ anschauen, zu dem wir inzwischen auch die Serie angefangen haben. Nostalgie pur!

Meine Baustelle „Kopf“ habe ich auch halbwegs in den Griff gekriegt nach dieser langen, ätzenden Pendelfahrt. Als Symbolbild für diese psychische wie auch körperliche Baustelle konnte ich auch an folgendem Motiv nicht vorbeilaufen:

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Mental habe ich zwei dicke, orange Streifen durch das Schild gemacht und werde mich heute nur noch mit Asphaltreparaturen in meinem Nacken – also Beseitigen der Restverspannung vom langen Stau befassen müssen. Vermutlich geschieht das wieder über einen kleinen Lauf. Ab kommende Woche bin ich dann sogar in so einer Art Wettkampf – ich mache die Kilometerfresser-Challenge des rennwerk mit, bei der der Rennwerk-Kunde gesucht wird, der in dieser langsam lauffeindlicher werdenden Witterung die meisten Kilometer in zwei Wochen abspult. Dass ich das nicht gewinnen werde, weiß ich – aber hey, dabeisein ist alles.

Paradigmen-Wechsel

In den letzten Monaten ging mir die Häufung von Baustellen, Unfällen und dergleichen auf meiner Pendelstrecke immer mehr auf die Nerven. Die Fahrbahnerneuerung am Leonberger Dreieck war nur die Spitze des Eisbergs, auch wenn sie schon ziemlich mächtig die Fahrzeiten verlängerte. Vielleicht sollte ich lieber von Steh- oder Dahinzuckel-Zeiten sprechen …

Jedenfalls sorgte der Frust über die ganze Herumsteherei auf der Autobahn dafür, dass ich es auf den freien Abschnitten immer mal „laufen ließ“. Mein kleines Auto ist sicher kein Rennwagen und es liegt mir fern, zu drängeln oder zu rasen. Aber auf unbegrenzten Abschnitten bei freier Strecke – da ist es schon verlockend, auch mal zu testen, ob der kleine Aygo 160km/h oder gar 170km/h schafft …

Nun habe ich vor einiger Zeit ein Feature meines Bordcomputers (wieder-)entdeckt: Man kann die Anzeige des abgeschätzten Spritverbrauchs minutenweise als Balkendiagramm auf dem großen Bildschirm in der Mitte anzeigen lassen. Klar, für mich als Freundin von Daten und Statistiken ist das verlockend. Dazu habe ich mir vor Augen geführt, wie viel solche 160-170km/h-Passagen an Zeitgewinn bringen, wenn ich sie mit 100-120km/h lässig auf der mittleren oder gar rechten Spur im Verkehr Mitschwimmen vergleiche. Und so ergab sich in der letzten Woche der die Überschrift stiftende Paradigmen-Wechsel: Statt zwei oder drei Minuten früher daheim anzukommen, machte ich es mir zum Sport, gemütlich und sparsam zu fahren, weder die Höchstgeschwindigkeit noch die Beschleunigung voll auszunutzen – und siehe da: Für im Schnitt fünf Minuten mehr Zeit auf meiner Strecke – das entspricht 10% länger Fahren – waren auch 10% weniger Spritverbrauch drin. Über die absolute Normierung der Anzeige brauchen wir nicht zu sprechen – die kann durchaus geschönt sein. Ich argumentiere allerdings in relativen Einheiten. Und somit komme ich entspannter zuhause an, freue mich über rund 30 Euro weniger Ausgaben für Sprit jeden Monat, wenn ich es so beibehalte und laufe noch seltener als ohnehin schon Gefahr, irgendwo eine Regel zu brechen.

Manchmal erschreckt es mich allerdings auch ein bisschen, wie über den Baustellenfrust und einiges mehr meine Fahr-Prämisse schleichend von „Ich fahre vorsichtig, langsam und entspannt“ zu „hui – so schnell kann man hier selbst mit meinem schwach motorisierten Kleinwagen fahren“ wurde.