Fremdes Revier

Ich bin zur Zeit im Urlaub im Mittelrheintal. Eigentlich sollte man ja denken, dass bei einem generischen Fluss das Tal zunehmend breiter und flacher wird, je näher der Fluss dem Meer kommt und je mehr Wasser er führt. Wie die meisten Menschen wissen, ist das beim Rhein nicht der Fall – in der Oberrheinischen Tiefebene haben wir eine beginnende divergierende Plattengrenze, also sozusagen den Beginn eines Ozeans. Der Rhein füllt hier eine tiefe, tiefe Spalte, die zwischen dem Schwarzwald, dem Kraichgau und dem Odenwald auf der einen Seite und den Vogesen sowie der Pfalz auf der anderen Seite mehrere tausend Meter tiefer als die umgebenden, genannten Gebirge liegt. Tatsächlich ist durch die Verfüllung dieser Spalte mit Sedimenten, dorthin getragen durch den Rhein und seine Nebenflüsse die Oberrheinische Tiefebene flacher als die eiszeitlichen Landschaften im flachen Norddeutschland – zumindest außerhalb der Urstromtäler.

Nach der Tiefebene allerdings durchschneidet der Rhein das Rheinische Schiefergebirge und bildet das spektakuläre, tief eingeschnittene Mittelrheintal, bevor es am Niederrhein wieder, wie man so schön sagt, „topfeben“ wird. Hier geht’s dann keine zwei Kilometer vom Rhein aus steil bergauf.

Lauftechnisch äußert sich das für mich in der Form, dass ich zuhause in der Oberrheinischen Tiefebene etwa 20 bis 30 Höhenmeter pro zehn Kilometer erlaufe, selbst wenn ich nicht nur einmal über den „Bruch“ der Hardt hinweglaufe, an der Unterelbe sind’s 40 bis 50 Höhenmeter pro zehn Kilometer, sofern ich im Geest bleibe und nicht im Urstromtal unterwegs bin. Hier in Unkel bei Bonn habe ich heute auf dem ersten Kilometer bereits über 100 Höhenmeter, eher mehr absolviert. Das zog ganz schön in den Beinen! Mal sehen, ob ich hier morgen mein bisheriges Höhenmetermaximum in einem Lauf übertreffe – es waren gut 250 Meter in den Bergen oberhalb von Kassel, Anfang Oktober 2017. Wenn ich den Anstieg vom Scheurener Hof bis zum Haanhof hier in Unkel morgen zweimal unterbringe in meiner Lauftour vor dem Frühstück, sind das mehr als 300 Höhenmeter.

Grau im Hintergrund die Höhe über dem Meer, orange Punkte zeigen die Schrittfrequenz.

Ich bin mal gespannt, was meine Schenkel morgen sagen, wenn ich sie schon wieder vom Rhein hoch auf die umgebenden Berge jage … und das auch noch mehrfach. Tatsächlich spielen sich meine heimischen Läufe – außer, wenn ich im Murgtal laufe und dort dann die Berge hoch – zwischen knapp über 100 Meter über dem Meeresspiegel und maximal etwa 140 Metern über dem Meer ab. Hier habe ich drunter angefangen und bin deutlich drüber gekommen. Das ist schon spannend, wie es sich woanders läuft.

Rheinebenenwetter

Wie in der Wüste?

Ich sage oft und gerne, dass es bei uns in der Oberrheinischen Tiefebene feuchtschwül wird, sobald es mal ein paar Tage über 30 Grad Celsius hatte. Das ist auch so, die Luftfeuchtigkeit geht auch während der aktuellen Trockenheit nicht so richtig runter. Es kühlt auch nachts nicht so stark ab, genau deswegen. Wüste haben wir hier nicht, auch wenn das Gras insbesondere auf den höheren, grobkörnigen und damit trockenen „Geröllhalden der Bäche aus dem Schwarzwald“ ganz schön vertrocknet aussieht. Weiter unten jedoch, in den feinkörnigen Böden der Auwälder und der umgebenden Wiesen, ist Wasser gespeichert und das Gras auch jetzt noch sattgrün.

Ich mag es warm, das hier wird kein Lamento gegen den aktuell sehr stabil heiß-trockenen Sommer. Dass diese mediterrane Sommerwetterlage im Bezug auf den Klimawandel durchaus eine alarmierende Botschaft sendet, steht auf einem anderen Blatt. Ich persönlich würde ein, zwei Tage Nieselregen als Intermezzo alle zehn Tage gutheißen, und etwas mehr Abkühlung nachts, aber ansonsten dürfte der Sommer gerne von Ende Mai bis Ende September so sein, wie ich ihn als Kind und Jugendliche im Urlaub auf Formentera und am Plattensee erlebt habe. Die Rheinebene kommt da recht nahe heran … insofern lebe ich hier wohl genau richtig.

Wo ist es flach?

Für Menschen aus dem Gebirge ist es ja quasi überall sonst flach. Ich selbst komme nicht aus einem Gebirge, aber doch aus einem der Bundesländer, die erklecklichen Anteil an Mittelgebirgen und auch ein bisschen am Alpenvorland haben – aus Baden-Württemberg, dem Bundesland, dessen höchste Erhebung es zum zweithöchsten Bundesland Deutschlands macht. Platz 1 auf dieser Liste nimmt natürlich Bayern mit seinen Alpenanteilen ein, danach folgen vor allem die Mittelgebirgsländer.

Tja, wo erläuft also eine Läuferin aus Baden-Württemberg mehr Höhenmeter pro Strecke? Zuhause oder im Urlaub an der Unterelbe? Eigentlich müsste ich die Frage gar nicht stellen – sollte man denken. Allerdings wohne ich in der Oberrheinischen Tiefebene, zwischen Rastatt und Karlsruhe.

Lange Rede, kurzer Sinn: So erstaunlich es klingen mag, die eiszeitlichen Ablagerungen im Bereich der Unterelbe, auf denen ich im Urlaub meine Laufstrecken absolvierte, bieten etwa dreimal so viele Höhenmeter pro Kilometer wie meine üblichen Strecken in der Oberrheinischen Tiefebene. Das hat mich gelinde gesagt verblüfft. Natürlich sprechen wir hier nicht über enorme Steigungen, aber eben doch über mehr als die 1,3 bis 1,5 Höhenmeter pro Kilometer, die zwischen Auwald und Hardt auflaufen.

Selbstverständlich kann man in Baden-Württemberg ganz andere Steigungen laufen. Genau das habe ich am gestrigen Tag auch gemacht: Von der Arbeitsstelle runter zum Schattengrund, dann hinauf zu den Parkseen, einmal um alle Parkseen herum, einmal zusätzlich um den neuen See herum, durch den Schattengrund wieder zurück. Zehn Kilometer, 132 Höhenmeter – gut und gerne 13 Höhenmeter pro Kilometer Strecke, das Zehnfache von Zuhause. Alternativ laufe ich auch gerne mal vor dem Saunagang im Rotherma in Bad Rotenfels die Hänge des Murgtals hinauf – da kommen schonmal 200 Höhenmeter auf sechs Kilometern zusammen, wenn man es darauf anlegt.

Nichtsdestotrotz: Es verblüfft wohl nicht nur mich, dass ich Baden-Württembergerin mit meinen Läufen in der Oberrheinischen Tiefebene weit weniger Höhenmeter absolviere als wenn ich im Bereich der Elbe durch die Eiszeitlandschaft renne.