Oh, das ist eine vollmundige Ankündigung, nicht wahr? Ein Blogbeitrag, der mit „Die ganze Geschichte“ überschrieben ist, verspricht unheimlich viel. Man könnte mir vorwerfen, bewusst fehlzuleiten…
Aber eigentlich bezwecke ich etwas damit und der Titel ist vielleicht etwas verkürzt. Oft ist es so, dass man irgendetwas sagt oder hinschreibt, das im Kontext der eigenen, der „ganzen Geschichte“ etwas bedeutet – und aus dem Zusammenhang gerissen etwas ganz anderes. Dieser Punkt ist mir mal wieder bewusst geworden, anhand eines Beitrags, den ich am Samstag auf Strava geteilt habe. Ich greife das mal raus…
Der Anlass
Nach zwei Wochen schaffte ich es am Samstag endlich, mit meiner Nichte (11) eine Runde Inliner zu fahren (wie sie es ausdrückt) oder skaten zu gehen (wie ich es ausdrücke). Sie hat deutlich mehr Praxis, da sie schon deutlich mehr gefahren ist und als junger Mensch auch motorische und koordinative Abläufe deutlich schneller erlernt als ich mit meinen Anfang 40. Nicht unerwartet war, dass sie zuverlässiger und mit mehr verschiedenen Methoden bremsen kann und auch weniger leicht die Balance verliert als ich. Auch, dass sie mit ihrer größeren Praxis mit Unebenheiten des Bodens besser umgehen kann, war mir bewusst. Etwas überrascht hingegen hat mich, dass ich schneller und auch ausdauernder skaten kann als sie – denn natürlich bin ich als Marathon-Läuferin fit, aber die Bewegungen des Skatens sind mir halt doch noch fremd und daher hinreichend anstrengend – zweimal verlangte meine Nichte eine Pause, die ich sicher nicht gebraucht hätte, mehrfach merkte ich, dass ich schon auf freiem Radweg die 15 km/h überschritt, während sie meinte, dass sie bisher maximal 15 km/h schnell gewesen sei – ich habe schonmal 20 erreicht.
Unter der Aktivität (GPS-Track, Geschwindigkeitsverlauf usw.), die ich auf Strava hochgeladen hatte, kommentierte ich, dass meine Nichte sicherer im Bremsen und generell sei, aber ich schneller und ausdauernder sei. Damit drückte ich diese Verwunderung aus.
Ein mir flüchtig und nur online bekannter Skater und Triathlet kommentierte darunter, schnell skaten könne jeder. Er ergänzte, dass bei schnellem Skaten gefährlich sei, wenn man nicht sicher skaten und bremsen könne. Tja, meine Aktivität war mit „Skaten Üben mit meiner Nichte“ überschrieben, und für mich selbst bedeutete das, dass ich in diesem Falle Sicherheit und Technik übe. Aber natürlich habe ich nicht die ganze Geschichte erzählt… sondern vorausgesetzt, dass ich Technik, Sicherheit und Bremsen übte und mir Tipps von der jungen Dame holte, nebendran aber meiner Verwunderung Ausdruck verlieh, dass meine Ausdauer und Kraft vom Laufen und Radfahren mich durchaus auch in der nicht so gewohnten Sportart des Inlineskatens schneller sein ließ als meine Nichte. Ich fühlte mich zuerst zu unrecht belehrt, erst recht, weil ich natürlich vor Unsicherheiten bei hohem Tempo wie 30 km/h gewarnt wurde.
Annahmen über den Kontext
Was ist also, was ich sagen möchte? Nun… eine Lehre gibt es nicht, wohl aber so eine Art Erkenntnis: Vieles erscheint herausgerissen aus dem Kontext anders, als wenn man den Kontext kennt und für sich selbst voraussetzt. Kennt man das Publikum genau, weiß man, welchen Teil der „ganzen Geschichte“ man nochmal wiederholen muss. Aber gerade bei Vorträgen vor unbekanntem Publikum oder bei Postings im Netz ist unklar, wer welche Anteile der ganzen Geschichte kennt. Manche Leute setzen dann voraus, dass sie nicht die ganze Geschichte kennen – andere imaginieren die ganze Geschichte dazu, und landen natürlich nicht immer einen Treffer.
So war der Hinweis des Kommentators richtig: Schnell skaten kann fast jeder. Das ist einfacher, als sicher zu skaten und zu bremsen. Ich übe das seit einer Weile und wage mich langsam, mit zunehmender Sicherheit, auf raueren Grund, an Stellen, an denen ich ein bisschen schneller reagieren muss, als ich es zu Anfang konnte, aber noch nicht an Stellen, an denen ich auch nur halb so schnell reagieren müsste, wie ich es mir zutraue. Das schrieb ich dann dazu und alles war gut.
Sich getroffen Fühlen – und Perspektivwechsel
Meine (sicher nicht mehr pubertäre) trotzige Eitelkeit jedoch wollte schreien: „Warne mich nicht vor Dingen, vor denen ich mich mehr fürchte und die ich mehr meide, als Du Dir vorstellen kannst!“ Indes, ich habe das nicht geschrien, und geschrieben habe ich es auch nicht. Aber es geisterte in meinem Kopf herum – und deswegen habe ich es hier hingeschrieben. Ich selbst versuche meistens, auch bei Dingen, die in mir Warnlampen angehen lassen, unter der Voraussetzung zu kommentieren, dass ich vielleicht nicht die ganze Geschichte kenne.
Aber es ist noch gar nicht so lange her, da musste ich bei sowas zurückgepfiffen werden – jemand fragte, welche Tests er machen und Werte er bestimmen lassen müsse, um festzustellen, ob er als Läufer Nahrungsergänzung gegen Mängel brauche. Ich brach die Lanze für ausgewogene Ernährung und dass man ohne Nahrungsergänzung auskommen könne – aber hey: Der Kollege fragte, wie man bestimmen könne, ob und wenn ja, welche Dinge er ergänzen müsse! Er wollte sich nicht vollpumpen, sondern erstmal prüfen, und das ist definitiv besser, als einfach mal auf doofe Dunst etwas oder auch nichts zu tun!
Die Moral von der Geschicht‘ – oder vielleicht auch nicht?
Und so plädiere ich hier vor mir selbst dafür, mehr nachzufragen und weniger anzunehmen, wie etwas gemeint ist. Denn ich selbst mag’s ja auch nicht, wenn man aufgrund einer Äußerung falsch annimmt, dass ich etwas falsch mache, und mir das (in meinen Augen) vorhält!