Warum tue ich mir das an?

Froh, nach dem Training noch Enthaarung hinbekommen zu haben. Mit Läuferbräune usw.

Gestern nach dem Training und dem „Frühstück“ nach dem langen Lauf habe ich mir noch anderthalb, eher zwei Stunden genommen, um meine Beine zu epilieren. Jetzt könnte man fragen: Rasieren geht doch viel schneller? Aber mein „Warum tue ich mir das an?“ war anders gemeint. Dennoch zunächst die Antwort auf diese Frage: Epilieren hält länger. Rasieren müsste ich dauernd, nach dem Epilieren habe ich etliche Wochen Ruhe.

Aber die Frage war – wie geschrieben – generellerer Natur. Warum brauche ich haarlose oder zumindest fast haarlose Beine? Ein richtiger „Pelz“ ist es auch ohne Aktionen nicht. Aber tue ich es vor allem für die anderen, vor allem für mein Gefühl zum Urteil der anderen oder vor allem für mich? Letztlich ist von allem ein bisschen dabei. „Für die anderen“ ist aber am wenigsten, denn ganz aufrichtig: Ich ziehe auch meine Röcke für mich und nur für mich an. Es geht mir dabei nicht um die Blicke der Männer oder das Urteil der Frauen (im Klischee – sicher spielt beides auch beim jeweils anderen Geschlecht rein). „Wie kann die Ihre behaarten Beine in einem kurzen Rock zeigen?“, das tangiert mich mehr, als ich zugeben möchte, aber deutlich weniger, als es das noch früher tat. Nichtsdestotrotz mag ich es nicht, dieses Urteil zu antizipieren, selbst wenn es gar nicht da sein sollte!

Vor allem wichtig ist mir aber, dass ich selbst es schöner finde. Auch, wenn ich nicht dem Urteil „der anderen“ unterworfen wäre, würden mir wenig bis nicht behaarte Beine an mir selbst besser gefallen. Meinem Mann ist’s egaler als mir, ihm gefalle ich auch in … äh, nicht aus dem Ei gepellt. Er sagte mal zu mir: „Du bist so hübsch!“ Ich fühlte mich gar nicht hübsch und erwiderte: „Aber hab‘ viel mehr Haare auf den Beinen, als mir lieb ist, habe ungewaschene Haare, bin verschwitzt…“ Und er so eiskalt: „Und stinkst vor dich hin.“ Das fand ich ganz großartig. Aber ich gefalle mir selbst besser, wenn ich gewisse Aspekte der nicht erforderlichen, aber gewisser Ästhetik Vorschub leistenden Kosmetik fröne. Also epiliere ich meine Beine. So ganz nebenbei mag ich auch das Gefühl von Stoff – sei es nun eine Strumpfhose, ein Rocksaum oder die Bettdecke – auf der haarlosen Haut. Das Gefühl zu haben, spielt auch eine Rolle.

Und so kann ich dann doch sagen: Nein, es ist weitestgehend nicht die Gesellschaft, die mich dazu nötigt, den Epilierer auszupacken. Ich möchte nicht, dass jemand weitestgehend oder nur wegen dieser Ideale sich zum Enthaaren zwingt – aber ich möchte auch nicht, dass der Akt des Enthaarens zur Unterwerfung unter die Konventionen hochstilisiert wird.

Komisch eigentlich, was man sich nach ca. 75 Minuten Krach und Ziepen für Gedanken macht, nicht?

Fragwürdige Komplimente

Heute auf dem Heimweg durch mein Dorf geschah es. Ich dachte mir nichts Böses und lief die Straße entlang – für mich ganz normal. Da fuhr ein Auto neben mir entlang, der Fahrer passte sein Tempo an mich an und ließ die Scheibe herunter. Ich dachte, er wolle nach dem Weg fragen – aber er begann erst einmal, seine Aktion selbst als „ich will kein Macho sein, aber Du siehst echt heiß aus“ einzuleiten. Ich nahm das erstmal nicht krumm, war ja schon in Ordnung. Wobei: Rock, der etwa den halben Oberschenkel verdeckt, hautfarbene Strumpfhose, Stiefel, rosa-weiße Jacke mit schwarzen Applikationen und Wanderrucksack finde ich jetzt nicht unbedingt provokant. Mag aber an mir liegen.

Jedenfalls meinte er dann noch, es würde nach Schulmädchen aussehen – na, die Phantasie will ich haben, aber okay, es gibt Dinge, die ich mir weniger gern sagen lasse. Schließlich fragte er noch, ob ich den ganzen Ort wuschig machen wolle mit dem Outfit. An der Stelle dachte ich: „Nee, oder?“ Er fragte noch nach dem Alter – klammerte das aber in ein „Soll man nicht machen, darf ich dennoch?“ ein – und dass ich dieses Jahr 40 werde, schreckte ihn wohl nicht ab. Die Vorlage, mir das Kompliment zu machen, dass ich nicht wie fast 40 aussähe, nutzte er nicht. Als er dann fragte, ob ich was mit ihm trinken gehen würde, meinte ich nonchalant: „Ich glaube nicht, dass mein Mann das gut fände.“

Einerseits habe ich die Komplimente genossen, andererseits glitt’s schnell in’s „Creepy-Sein“ ab. Der fuhr dann davon, war vermutlich – wo er doch abgeblitzt war – eher froh, sich schnell aus dem Staub zu machen. Immerhin war’s ihm wohl peinlich. Ich bin nicht sicher, wie er auf ein „unbegründetes“ Nein reagiert hätte. Zu seinen Gunsten nehme ich mal an, dass das genauso den Abbruch bewirkt hätte wie der Verweis auf meinen Mann.

Sagen und tun

Gestern Abend war ich auf einem Konzert – bei VNV Nation auf dem zweiten Europa-Teil der Tour zum Album Noire. Es war ein tolles Konzert, jedenfalls für mich, doch darum geht es mir hier gar nicht.

Ich kam mit ein wenig Verspätung auf dem Heidelberger Hauptbahnhof an und stand so nicht ganz vorne in der Warteschlange vor dem Einlass. Das führte dazu, dass für mich nur noch am Bühnenrand ein Platz in der vordersten Reihe war. Neben mir, in Richtung Bühnenmitte, war eine recht raumgreifende Vierergruppe. Zwei der Frauen der Gruppe aus insgesamt drei Frauen und einem Mann standen vorne an der Absperrung und nahmen viel Platz ein – mehr, als sie für ihre Körper gebraucht hätten. Nun gut, dachte ich mir. Später dann tauchten hinter mir eine Frau mit Rollator und ein Pärchen auf, der Mann im Rollstuhl. Die Vierergruppe neben mir begann sich zu unterhalten, warum es denn keinen Rollstuhl-Bereich gäbe, oder man diese Leute nicht vor die Absperrung ließe. Auf die Idee, den Rollstuhlfahrer und seine wirklich nicht hochgewachsene Freundin vor an die Absperrung zu lassen und dahinter zu stehen, kamen sie nicht. Ich brauchte zugegebenermaßen auch einen Moment, aber kurz bevor das Konzert losging, tauschte ich mit dem Pärchen mit Rollstuhlfahrer den Platz und schuf so auch eine direkte Sichtlinie der Dame mit Rollator auf die Bühne.

Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Ich sollte nicht so lange brauchen, so etwas zu tun. Auch Kinder, die ja nun wirklich nicht den Blick versperren, aber außer vorne an der Absperrung nun wirklich schlechte Chancen haben, was zu sehen, sollte man nach vorne lassen. Das taten dieses Mal recht wenige. Eigentlich bin ich das vom Publikum bei VNV Nation anders gewohnt. Aus meiner Sicht handeln die Texte auch – nicht nur, aber eben auch – davon, sich umeinander zu kümmern. Insbesondere „Illusion“ macht da einen Vorstoß. Vielleicht war’s ein schlechter Tag, ich habe ja auch recht lange gebraucht, bis ich von dämlichem Egoismus abgerückt bin.

Für mich ist manchmal erschreckend, wie sehr wir Deutschen uns von unserem überregelten Staat aus der Verantwortung nehmen lassen. Es wird geschimpft, dass sich nicht besser um die Schwachen, Gehandicapten oder Kranken gekümmert wird. Aber selbst mal einen Platz in der ersten Reihe aufgeben, um jemanden vorzulassen, über den man ja doch drübergucken kann, der aber hinter einem selbst nichts sehen könnte, dafür brauchen wir lang; wenn wir es überhaupt tun. So wichtig ich es finde, dass der Staat sich um die Dinge kümmert – es sollte auch die Gesellschaft sein, die das tut. Und die Gesellschaft, das ist nicht irgendetwas Abstraktes. Das sind wir alle, und wer, wenn nicht ein erster Teil der Gesellschaft, nämlich wir selbst, kann damit anfangen?

Im Endeffekt wurde ich mit frohen, dankbaren – und nicht zuletzt unheimlich vom Konzert begeisterten, sehr engagiert mitmachenden Menschen um mich herum belohnt. Die Stimmung in der Ecke, in die ich dann doch ein Stück weiter hinein zurückgesetzt das Konzert miterlebte, war gigantisch!

Lügen ist anstrengend

Das klingt nun sehr plakativ. Ich drücke es auch gerne so plakativ aus, auch wenn ich es vielleicht nicht ganz so hart meine, wie ich es hier schreibe.

Lügen ist natürlich moralisch nicht unbedingt vertretbar, auch wenn an vielen Stellen unserer Gesellschaft die Notlüge oder die Auslassung üblich sind und vielleicht auch zur Umgangsform gehören. Dennoch finde ich es anstrengend, denn: Wenn ich eine Lüge oder eine Auslassung aufrecht erhalten möchte, muss ich mich darum kümmern und im Blick behalten, wem ich was erzählt habe. Nicht nur, dass ich sicherstellen muss, dass derjenige, dem ich die Wahrheit gesagt habe, und derjenige, dem ich eine Lüge erzählt habe – oder gar Leute, denen ich verschiedene Lügen erzählt habe – miteinander austauschen. Nein, vielmehr muss ich auch die Übersicht behalten, WEM ich WAS erzählt habe – oder bei Auslassungen eben nicht erzählt habe. Dafür bin ich zumeist zu faul. Ich erzähle viele Dinge öfter mal. Wenn sie mir im Kopf rum gehen und ich gerade mit jemandem über ein Thema spreche, zu dem die Geschichte, Begebenheit oder Erkenntnis passt, die mir gerade im Kopf herumgeht, dann erzähle ich darüber. So hören immer wieder Leute Geschichten von mir zweimal. Oder dreimal. Oder viermal. Oder ich denke, ich habe sie der Person schon erzählt, aber der Person ist neu, was ich erzähle.

Ich müsste mir klar machen, wem ich was erzählt habe, wenn ich an verschiedenen Stellen, bei verschiedenen Leuten unterschiedliche Geschichten erzählen würde. Dafür bin ich zu faul, viel zu faul. Der Vorteil an der Wahrheit und einer halbwegs homogenen Struktur, wie weit ich die Dinge offenlege, liegt auf der Hand: Ich muss überhaupt nicht im Blick behalten, wer was weiß und wer was nicht wissen soll. Ich kann einfach drauflos erzählen und die meisten Fettnäpfchen, die ich dabei erwische, basieren darauf, WER ich bin, und nicht darauf, was ich wem vorenthalten oder wem ich was auftischen will. Mir würden Lügen eh immer um die Ohren fliegen, weil ich ja doch nicht im Blick behalte, wo ich was schon erzählt habe.

Lügen und Auslassen ist deswegen an sich nicht anstrengend. Die Lüge aber aufrecht erhalten und das Ausgelassene nicht an den unerwünschten Adressaten geraten zu lassen, ist aber sehr anstrengend. Im Endeffekt mach das das Leben mit dem Lügen anstrengend – verkürzend gesprochen ist somit aber eben doch das Lügen anstrengend. Wenn man aber stets das erzählt, was wahr ist oder was man (konsistent) für wahr hält, wird das alles sehr einfach. Deswegen lasse ich das Lügen und hasse es, wenn ich für andere lügen soll. Weil es anstrengend ist, und es gibt so viele andere Dinge, für die sich anzustrengen viel mehr lohnt.

„Damit es keinen trifft, den wir mögen…“

Wie immer fällt einem das Beste ein, wenn man den Beitrag schon geschrieben hat. Das ist ja meistens so.

Konkret meine ich den Beitrag Miteinander Umgehen vom gestrigen Tage, der sich mit meinem Umgang mit Konflikten innerhalb der Community meines privaten Minecraft-Servers beschäftigt. Den ein oder anderen Gedanken habe ich schonmal da rein investiert, zum Beispiel zur goldenen Regel und dem kategorischen Imperativ. Nun habe ich ja schon ein wenig Zeit damit verbracht, mich mit Regeln zu befassen – als Strahlenschutzbeauftragte im Job, bei der Betreuung von Studenten im Job, beim Organisieren meines DVD-Abends „Trek Monday“ und bei der Mitgliedschaft in Gilden-Leitungen oder zumindest als Gilden-Offizierin in verschiedenen Online-Spielen.

Wo immer man hinschaut, bei kleineren Gemeinschaften, die langsam wachsen, funktioniert vieles automatisch. Man muss keine Regeln aufstellen, weil sich alle mehr oder minder an einen Kodex halten, der nicht niedergeschrieben ist. Oder es gibt einen Kodex und innerhalb dessen werden Aufgaben, Rechte und Pflichten frei interpretiert, im Konsens. Dann geht irgendeinem wegen irgendwas die Hutschnur hoch, die Gruppe vergrößert sich stark oder es ist einfach nur die Sache, dass etwas nur Bestand haben kann, wenn es sich verändert. So wie bei obigem Anlass auf dem Minecraft-Server ergeben sich aus Veränderungen auch Anzweiflungen der ungeschriebenen Gesetze oder der ungeschriebenen Auslegungen geschriebener Regelwerke. In diesem Moment kann das Chaos beginnen – oder der Anpassungsprozess. Wichtig finde ich in solchen Situationen, dass man fair bleibt. Dieses fair bleiben ist nicht immer einfach, denn niemand verändert sich gerne, niemand passt sich gerne an neue Regeln an. Daraus erwachsen Arbeit an sich selbst und den Prozessen – und Unsicherheit, ob alles richtig läuft. In diesem Kontext sehe ich gerne das empörte: „Natürlich machen wir das so! Wir haben das immer so gemacht!“ Es ist eine Kurzschlusshandlung, die sich gegen die Unsicherheit einer meist nötigen Veränderung stemmt.

In einer meiner Zeiten in einer Gildenleitung habe ich aber auch schon etwas anderes erlebt. Ich bin mir nicht mehr sicher, um was es ging. Wobei, beim Schreiben kommt es langsam, aber im Interesse des Schutzes aller Beteiligten werde ich einfach mal unterlassen, es zu spezifizieren. Kurz und gut, es ergab sich eine Veränderung, neue Leute waren da, deren Verhalten war Alteingesessenen nicht recht. Verwarnungen sollten ausgesprochen werden, Leute rausgeworfen, Regeln aufgestellt, keine neuen aufgenommen werden – wie auch immer. Von allem ein bisschen. Im vorliegenden Falle ergab sich aber (von mir und anderen bemerkt) der Umstand, dass das, was die Initiatoren der neuen Regeln an den neuen Leuten störte, etwas war, das auch andere taten. An den Alteingesessenen wurde es toleriert, an Neuen nicht. Das ist unfair, das widerspricht dem kategorischen Imperativ und es ist auch nur ganz, ganz schwer mit der goldenen Regel in Einklang zu bringen. In jenem Fall, an den ich mich hier erinnere, fiel die Forderung, man müsse die neuen Regeln so gestalten, „dass es niemanden trifft, den wir mögen.“

BÄM! Das ist ein ganz schöner Hammer, nicht? Man gestaltet die Regeln nicht so, dass sie sich gegen toxisches oder unerwünschtes Verhalten richten, sondern dass sie sich gegen eine subjektiv ausgewählte Personengruppe richten! Aus dem Reflex heraus handelt man oft so. Aber es ist zutiefst unlauter, Regeln nicht nach dem Grad des Problematischseins eines Verhaltens auszurichten, sondern nach der Personengruppe, die es betrifft.

Und ganz genau das möchte ich nicht tun. Ich möchte mir selbst auf die Finger schauen, dass ich nicht aus Reflex, nicht unbewusst und mal erst recht nicht bewusst Regeln schaffe, die Personen nur auf der Basis von Sympathie oder Antipathie ausschließen oder stigmatisieren. Wenn ich auf der Basis von Sympathie oder Antipathie eine Gruppe wähle, dann sollte ich dazu stehen. „Passt meiner Meinung nach nicht.“ ist sicher nicht ganz das treffende, aber immer noch näher als zu analysieren: „Der, der und die da drüben, die sind’s, die wir nicht mögen. Was machen die, was die Leute, die wir mögen, nicht machen?“ – und daraus dann eine Regel konstruieren.

An dieser Stelle kann man den ganz großen Bogen zur Politik und Gesellschaft schlagen. Muss man aber nicht. Man kann an dieser Stelle auch sagen: „Wo nun das Problem mit Fehlverhalten in Sachen des Tons aufgekommen ist, wird die Konsequenz von Fehlverhalten jeden auf dem Minecraft-Server treffen, der sich fehlverhält. Egal, ob er oder sie neu ist oder zum Stamm der Serverpopulation gehört.“ Dazu passt auch, dass ich nach der allgemein sichtbaren Verkündung, dass höflicher Ton und gegenseitige Rücksichtnahme vorausgesetzt würden, eine Debatte entstand, in der ich den Eindruck einer Rechtfertigung hatte. Jemand sah sich in einer schwachen Position und fürchtete sich, argumentierte, warum er nicht schuld sei. Dabei hatte ich keine Namen genannt. Ich hatte nur – anlassbezogen – Regeln, eigentlich nur Empfehlungen aufgestellt, die für alle gelten sollen.

Ich selbst werde mich hüten, Einstufung und Ahnung von Fehlverhalten nach Sympathie oder Intensität der Bekanntschaft zu staffeln. Das ist anfechtbar und unfair. Offenbar liegt’s aber nahe, ein solches Willkür-Verhalten zu unterstellen … oder vielleicht triggert man mit Regel und der Möglichkeit von Kontrolle auch das Schuldbewusstsein … auf der Autobahn hat man vor jeder fest installierten Geschwindigkeitskontrolle den Beweis, dass die Androhung von Kontrolle schon Schuldbewusstsein triggert, selbst wenn die Kontrolle weder durchgeführt noch erkanntes Fehlverhalten tatsächlich mit Konsequenzen belegt wird.

Sag‘ ich was oder nicht?

Am Wochenende kam eine Frage ein weiteres Mal in mir auf, die in den letzten Monaten öfter in meinem Kopf herumgeisterte.

Ich habe eine tiefe Stimme, bin groß und mittlerweile sportlich gebaut. Ich verstehe, wenn Menschen im ersten Moment trotz Verhaltens, anderer figürlicher Aspekte, langer Haare und eigentlich fast immer archetypisch weiblicher Kleidungsaspekte (Röcke … ja, ich drücke mich zu abstrakt aus) manchmal erst nicht sicher sind. Was mach‘ ich nun, wenn mich jemand „misgendered“, also mit „er“ oder „Herr“ anspricht?

Früher habe ich da recht konsequent korrigiert, auch mal Diskussionen angezettelt. Inzwischen bin ich da ruhiger – ich bin mir meiner eigenen Weiblichkeit hinreichend sicher, um nicht davon abzuhängen, dass mich jeder am Telefon oder auch in Bereichen (Grufti-Festivals zum Beispiel), wo (weibliche) Klamotten nicht ganz so gender-eindeutig sind, richtig einordnet. Dennoch ist das ein unangenehmer Moment. Und manchmal, man hat sich eine Weile nett unterhalten, „Herr“ oder „Frau“ spielten bei der Anrede keine Rolle, weil’s spätestens mit der Vorstellung mit Vornamen das vertraute „Du“ war, kommt jemand dazu und der Gegenüber referenziert mich als „er“, da frage ich mich: Riskier‘ ich jetzt, das nette Gespräch zu unterbrechen und korrigiere? Spielt’s nicht eigentlich kaum eine Rolle für mich, was der Gegenüber über mein Genom oder meine primären Geschlechtsorgane denkt? Schließlich ist derjenige, dessen Interesse für meine Geschlechtsorgane mich auch interessiert, sich darüber ziemlich gewisse – experimentelle Überprüfung inklusive.

Trotzdem ist das so ein peinlicher Moment. Es ist wirklich immer die Frage, ob ich es zum peinlichen Moment für den anderen werden lasse – oder mich damit abfinde, dass es mein peinlicher Moment ist, und nichts sage. Nehm‘ ich Rücksicht darauf, dass peinliche Momente auch für die anderen doof sind und ertrage einfach meinen peinlichen Moment? Oder gebe ich den peinlichen Moment weiter, fühle mich in der Regel besser – und provoziere selten eine Diskussion? Wahrscheinlich ist die Zurückhaltung, die ich in dieser Hinsicht in letzter Zeit öfter geübt habe, wieder mal typisch weibliches Rollenbild – lass‘ andere bestimmen, wie sie Dich sehen wollen. Komisch eigentlich, genau an der Stelle möchte ich ja nicht dem weiblichen Archetyp der patriarchalischen Gesellschaft genügen.

Ich bin anders

Ich lebe unter Euch.

Meine Stimme klingt etwas anders als Eure Stimmen, mein Körper sieht etwas anders aus als Eure Körper. Ich kann manches nicht, was Ihr könnt. Mein Lebensweg ist anders verlaufen als Eurer. Manchmal muss ich mich anstrengen, muss Dinge tun, die Ihr nicht wisst, um mehr auszusehen, mehr zu klingen, mehr zu sein wie Ihr. Ich tue das nicht nur für Euch, sondern auch für mich: für mein Selbstwertgefühl, für meine Zufriedenheit mit der Person, die mich aus dem Spiegel anschaut. Denn ich lebe nach Euren Normen.

Ich gehöre dazu, bin gut ausgebildet, habe eine Arbeit, eine Familie, zahle Steuern und Kranken- und Renten- und Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Ich gehöre dazu, viele andere, die nicht so sind, teilen Teile meiner Abweichungen von der „Norm“, von dem, was als normal empfunden wird. Ich habe Freunde, die wissen, dass ich anders bin, und denen es nichts ausmacht. Ich habe Kollegen, Fremde, die wissen, dass ich anders bin, die mich nicht merken lassen, ob es ihnen etwas ausmacht. Ich habe Freunde, Kollegen, Fremde, von denen ich nicht weiß, ob sie wissen, dass ich anders bin.

Es gibt Menschen, die mich kalt und feindselig anschauen. Es gibt Menschen, die das, was ich bin, unnatürlich, unnormal nennen. Es gab Zeiten, in denen undenkbar war, was ich bin. Es gibt Gesellschaften, in denen das, was ich bin, undenkbar zu halten versucht wird, obwohl alle es nun mal gesehen haben. In denen man solche wie mich nicht will, sie bestraft für das, was sie sind. Ich habe es mir nicht ausgesucht, rufe ich! Gehöre ich dazu?

Es macht mir Angst, wenn Menschen sagen: unser Wohlstand ist in Gefahr, wir wollen unter uns bleiben. Unter den Normalen! Denn bin ich normal? Ich bin nicht dort, nicht das, was mein Körper nach der Geburt sagte, dass ich es bin. Man merkt es, dass ich anders bin. Anders ist nicht normal, oder? „Was ist schon normal?“, fragt Ihr. Niemand ist normal, denn es ist ein statistischer Durchschnitt. Dennoch guckt Ihr komisch, redet darüber, wenn ich nicht dabei bin. Das ist okay, klar, man redet über besondere Eigenschaften. Aber wenn es darum geht, dass die Bettdecke tagtäglich etwas kleiner wird, und sei es nur gefühlt, dann ist jeder sich selbst der Nächste. Dann guckt man: wer sticht raus? Der oder die ist nicht normal! Bevor Ihr’s den Normalen wegnehmt, nehmt es denen, die nicht normal sind, uns Geld gekostet haben, die nicht von hier sind!

Auch ich tue das. Ist jemand anders? Guck‘ mal, der oder die ist anders! Andere wie der oder die tun uns dieses oder jenes an, habe ich gehört, sei vorsichtig! Ich guck‘ über die Schulter, wenn ich Schritte hinter mir höre. Wenn der oder die hinter mir „anders“ ist, läuft’s mir gleich nochmal so kalt über den Rücken. Weil ich weiß, dass ich anders bin, verletzbarer. Die, die „anders“ sind, schlagen zuerst mal die, die auf andere Weise oder noch mehr anders sind als „alle“.

Ich habe Angst vor extrem konservativen, traditionellen, „rechten“ Bewegungen. Sie leben davon, alles Übel der Welt denen in die Schuhe zu schieben, die anders sind. Sie leben davon, diese Anderen den angstvollen Normalen aus den Augen zu nehmen, sie wegzuschicken, einzusperren. „Die, die anders sind, kosten uns Geld, machen uns kaputt, gefährden unseren wenigen Wohlstand! Ich will nicht mit denen teilen müssen, die anders sind, die hierhergekommen sind, um unseren Wohlstand, unsere Privilegien, unsere Normalität zu teilen!“

Solche Worte sagt der radikale und manchmal auch der weniger radikale Islam, solche Worte sagt aber auch die AfD, Geert Wilders, Marine Le Pen, Donald Trump. Vor allem aber sagt solche Worte der „kleine Mann“, der um seinen Wohlstand fürchtet. Aber vielleicht hilft es ja gar nicht, die loszuwerden, die anders sind, uns Geld kosten, nicht hier in der Normalität geboren sind. Dann sucht man nach neuen Anderen, die schuld sind. Irgendwann sind die dran, die auf die Weise anders sind, wie ich es bin.

Ihr behauptet, wir wollen Euch aufzwingen, so zu sein wie wir es sind. Ihr sagt Worte wie „Islamisierung“, Sätze wie „Homo-Ehe? Na, so lang’s keine Pflicht wird!“ Was Ihr meint, ist: „Wir sind die Norm. Wir wissen, dass wir darauf pochen, die Norm zu sein, deswegen schreiben wir Euch zu, dass Ihr das auch versuchen werdet. Ihr seid anders. Passt Euch an oder geht uns aus den Augen.“ Aber wenn wir uns anpassen, sind wir verdächtig, kosten Geld. Auch dann wollt Ihr uns nicht.

Haben wir überhaupt eine Chance bei Euch? Ja, sagt Ihr uns. Aber wenn Ihr das Ganze konsequent weiter denkt, könnt Ihr nicht dem Schwulen sagen: „Du hast eine Chance bei uns, Du bist ja mehr wie wir als die anderen.“, und dann den Moslem rauswerfen. Ihr werdet sagen, der Schwule könne nichts dafür, was er ist, und unsere Argumentation gegen uns umdrehen. Misstraut Ihr dem Moslem, weil er Moslem ist? In Euren Köpfen vielleicht schon. Nach außen hin guckt Ihr auf Hautfarbe, Gesichtsschnitt, Klang der Stimme, Akzent. Das kann dieser Andere, der vielleicht kein Moslem ist, nicht ändern, außer er ist Michael Jackson.

Ihr zündelt mit der Angst vor denen, die anders sind. Ihr zieht Linien, aber es ist eine „Defense in Depth“ der Allernormalsten. Wenn es nicht reicht, die eine Gruppe auszuweisen, auszugrenzen, zu internieren, dann kommt der nächste Sündenbock. Davor, genau davor habe ich Angst. Denn ich bin die Nächste auf irgendeiner Liste. Ich war versucht, hier zu schreiben: „Nein, ich bin nicht A, B, C oder D. Sondern ich bin E.“ Was Ihr für die Buchstaben einsetzt, nach absteigendem Ressentiment, könnt Ihr Euch aussuchen. Ich habe es nicht getan, denn ich will nicht diese Linien ziehen, nicht sagen: „Schmeißt die vor mir raus, verprügelt die vor mir, die sind schlimmer als ich!“ Ich schreib’s direkt. Ich bin transsexuell. Geschützt nach einem Gesetz, das dieses Land in einer unfortschrittlichen Phase gemacht hat, in der Fortschritt, gesellschaftlicher Fortschritt erwünscht war. Aber ich trage nicht zur Vermehrung der „aufrechten Deutschen“ bei und ich habe sie durch meine medizinische Behandlung einen Haufen Geld gekostet. Ich bin auf diese Welt gekommen, in dieses Land gekommen (durch Geburt, aber ist das anders, als über die Grenze zu kommen?) und habe mir erstmal meinen Unterleib richten lassen.

Wenn Ihr mit dem Ressentiment weit genug gekommen seid, landet Ihr bei mir. Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit einer hochgebildeten Dame in einer bedeutenden, unterbezahlten, untergewürdigten Position. Sie gehört dazu, sie ist normal in jeder Hinsicht, für mich und für andere. Dann haben wir über Ressentiments gesprochen, und schließlich landeten wir bei der Angst. Ich meinte, „damals“ wär’s bei mir der rosa Winkel an der Häftlingsklamotte gewesen. Sie meinte: „… und bei mir der gelbe Stern.“

Nennt das nicht die Nazi-Keule! Schon applaudieren die ersten Normalen, wenn von den Militanten die Flüchtlinge als unwillkommen verbrüllt werden. Schon denkt einer in einem Land, in dem fast jeder irgendwann eingewandert ist, über Selektion der neuen Einwanderer nach Religion nach, und die Leute bejubeln ihn dafür. Die Normalen, aber auch die, die ein kleines Quäntchen weniger anders sind als die, auf die im Moment gezeigt wird. Sie wollen dazugehören. Das will ich auch. Aber wenn es bröckelt, wer dazugehört, wenn der Ton harscher wird gegen die, die nicht dazugehören, dann brüll‘ ich nicht mit. Denn wie viele, viele andere bin ich anders genug, zu den Nächsten zu gehören.

Denkt mal drüber nach. Verbockt es nicht. Angst, Ressentiment, Sündenböcke Finden ist wie eine Sucht. Man braucht mehr. Es hört nicht auf. Beendet es jetzt, bevor es noch schwerer wird. Bitte!