Ich lebe unter Euch.
Meine Stimme klingt etwas anders als Eure Stimmen, mein Körper sieht etwas anders aus als Eure Körper. Ich kann manches nicht, was Ihr könnt. Mein Lebensweg ist anders verlaufen als Eurer. Manchmal muss ich mich anstrengen, muss Dinge tun, die Ihr nicht wisst, um mehr auszusehen, mehr zu klingen, mehr zu sein wie Ihr. Ich tue das nicht nur für Euch, sondern auch für mich: für mein Selbstwertgefühl, für meine Zufriedenheit mit der Person, die mich aus dem Spiegel anschaut. Denn ich lebe nach Euren Normen.
Ich gehöre dazu, bin gut ausgebildet, habe eine Arbeit, eine Familie, zahle Steuern und Kranken- und Renten- und Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Ich gehöre dazu, viele andere, die nicht so sind, teilen Teile meiner Abweichungen von der „Norm“, von dem, was als normal empfunden wird. Ich habe Freunde, die wissen, dass ich anders bin, und denen es nichts ausmacht. Ich habe Kollegen, Fremde, die wissen, dass ich anders bin, die mich nicht merken lassen, ob es ihnen etwas ausmacht. Ich habe Freunde, Kollegen, Fremde, von denen ich nicht weiß, ob sie wissen, dass ich anders bin.
Es gibt Menschen, die mich kalt und feindselig anschauen. Es gibt Menschen, die das, was ich bin, unnatürlich, unnormal nennen. Es gab Zeiten, in denen undenkbar war, was ich bin. Es gibt Gesellschaften, in denen das, was ich bin, undenkbar zu halten versucht wird, obwohl alle es nun mal gesehen haben. In denen man solche wie mich nicht will, sie bestraft für das, was sie sind. Ich habe es mir nicht ausgesucht, rufe ich! Gehöre ich dazu?
Es macht mir Angst, wenn Menschen sagen: unser Wohlstand ist in Gefahr, wir wollen unter uns bleiben. Unter den Normalen! Denn bin ich normal? Ich bin nicht dort, nicht das, was mein Körper nach der Geburt sagte, dass ich es bin. Man merkt es, dass ich anders bin. Anders ist nicht normal, oder? „Was ist schon normal?“, fragt Ihr. Niemand ist normal, denn es ist ein statistischer Durchschnitt. Dennoch guckt Ihr komisch, redet darüber, wenn ich nicht dabei bin. Das ist okay, klar, man redet über besondere Eigenschaften. Aber wenn es darum geht, dass die Bettdecke tagtäglich etwas kleiner wird, und sei es nur gefühlt, dann ist jeder sich selbst der Nächste. Dann guckt man: wer sticht raus? Der oder die ist nicht normal! Bevor Ihr’s den Normalen wegnehmt, nehmt es denen, die nicht normal sind, uns Geld gekostet haben, die nicht von hier sind!
Auch ich tue das. Ist jemand anders? Guck‘ mal, der oder die ist anders! Andere wie der oder die tun uns dieses oder jenes an, habe ich gehört, sei vorsichtig! Ich guck‘ über die Schulter, wenn ich Schritte hinter mir höre. Wenn der oder die hinter mir „anders“ ist, läuft’s mir gleich nochmal so kalt über den Rücken. Weil ich weiß, dass ich anders bin, verletzbarer. Die, die „anders“ sind, schlagen zuerst mal die, die auf andere Weise oder noch mehr anders sind als „alle“.
Ich habe Angst vor extrem konservativen, traditionellen, „rechten“ Bewegungen. Sie leben davon, alles Übel der Welt denen in die Schuhe zu schieben, die anders sind. Sie leben davon, diese Anderen den angstvollen Normalen aus den Augen zu nehmen, sie wegzuschicken, einzusperren. „Die, die anders sind, kosten uns Geld, machen uns kaputt, gefährden unseren wenigen Wohlstand! Ich will nicht mit denen teilen müssen, die anders sind, die hierhergekommen sind, um unseren Wohlstand, unsere Privilegien, unsere Normalität zu teilen!“
Solche Worte sagt der radikale und manchmal auch der weniger radikale Islam, solche Worte sagt aber auch die AfD, Geert Wilders, Marine Le Pen, Donald Trump. Vor allem aber sagt solche Worte der „kleine Mann“, der um seinen Wohlstand fürchtet. Aber vielleicht hilft es ja gar nicht, die loszuwerden, die anders sind, uns Geld kosten, nicht hier in der Normalität geboren sind. Dann sucht man nach neuen Anderen, die schuld sind. Irgendwann sind die dran, die auf die Weise anders sind, wie ich es bin.
Ihr behauptet, wir wollen Euch aufzwingen, so zu sein wie wir es sind. Ihr sagt Worte wie „Islamisierung“, Sätze wie „Homo-Ehe? Na, so lang’s keine Pflicht wird!“ Was Ihr meint, ist: „Wir sind die Norm. Wir wissen, dass wir darauf pochen, die Norm zu sein, deswegen schreiben wir Euch zu, dass Ihr das auch versuchen werdet. Ihr seid anders. Passt Euch an oder geht uns aus den Augen.“ Aber wenn wir uns anpassen, sind wir verdächtig, kosten Geld. Auch dann wollt Ihr uns nicht.
Haben wir überhaupt eine Chance bei Euch? Ja, sagt Ihr uns. Aber wenn Ihr das Ganze konsequent weiter denkt, könnt Ihr nicht dem Schwulen sagen: „Du hast eine Chance bei uns, Du bist ja mehr wie wir als die anderen.“, und dann den Moslem rauswerfen. Ihr werdet sagen, der Schwule könne nichts dafür, was er ist, und unsere Argumentation gegen uns umdrehen. Misstraut Ihr dem Moslem, weil er Moslem ist? In Euren Köpfen vielleicht schon. Nach außen hin guckt Ihr auf Hautfarbe, Gesichtsschnitt, Klang der Stimme, Akzent. Das kann dieser Andere, der vielleicht kein Moslem ist, nicht ändern, außer er ist Michael Jackson.
Ihr zündelt mit der Angst vor denen, die anders sind. Ihr zieht Linien, aber es ist eine „Defense in Depth“ der Allernormalsten. Wenn es nicht reicht, die eine Gruppe auszuweisen, auszugrenzen, zu internieren, dann kommt der nächste Sündenbock. Davor, genau davor habe ich Angst. Denn ich bin die Nächste auf irgendeiner Liste. Ich war versucht, hier zu schreiben: „Nein, ich bin nicht A, B, C oder D. Sondern ich bin E.“ Was Ihr für die Buchstaben einsetzt, nach absteigendem Ressentiment, könnt Ihr Euch aussuchen. Ich habe es nicht getan, denn ich will nicht diese Linien ziehen, nicht sagen: „Schmeißt die vor mir raus, verprügelt die vor mir, die sind schlimmer als ich!“ Ich schreib’s direkt. Ich bin transsexuell. Geschützt nach einem Gesetz, das dieses Land in einer unfortschrittlichen Phase gemacht hat, in der Fortschritt, gesellschaftlicher Fortschritt erwünscht war. Aber ich trage nicht zur Vermehrung der „aufrechten Deutschen“ bei und ich habe sie durch meine medizinische Behandlung einen Haufen Geld gekostet. Ich bin auf diese Welt gekommen, in dieses Land gekommen (durch Geburt, aber ist das anders, als über die Grenze zu kommen?) und habe mir erstmal meinen Unterleib richten lassen.
Wenn Ihr mit dem Ressentiment weit genug gekommen seid, landet Ihr bei mir. Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit einer hochgebildeten Dame in einer bedeutenden, unterbezahlten, untergewürdigten Position. Sie gehört dazu, sie ist normal in jeder Hinsicht, für mich und für andere. Dann haben wir über Ressentiments gesprochen, und schließlich landeten wir bei der Angst. Ich meinte, „damals“ wär’s bei mir der rosa Winkel an der Häftlingsklamotte gewesen. Sie meinte: „… und bei mir der gelbe Stern.“
Nennt das nicht die Nazi-Keule! Schon applaudieren die ersten Normalen, wenn von den Militanten die Flüchtlinge als unwillkommen verbrüllt werden. Schon denkt einer in einem Land, in dem fast jeder irgendwann eingewandert ist, über Selektion der neuen Einwanderer nach Religion nach, und die Leute bejubeln ihn dafür. Die Normalen, aber auch die, die ein kleines Quäntchen weniger anders sind als die, auf die im Moment gezeigt wird. Sie wollen dazugehören. Das will ich auch. Aber wenn es bröckelt, wer dazugehört, wenn der Ton harscher wird gegen die, die nicht dazugehören, dann brüll‘ ich nicht mit. Denn wie viele, viele andere bin ich anders genug, zu den Nächsten zu gehören.
Denkt mal drüber nach. Verbockt es nicht. Angst, Ressentiment, Sündenböcke Finden ist wie eine Sucht. Man braucht mehr. Es hört nicht auf. Beendet es jetzt, bevor es noch schwerer wird. Bitte!