Spiegelei-Schild

Bevor ich zu meiner ersten Reise im neuen Jahr aufbreche, mussten eben noch ein paar Dinge erledigt werden. Mein Mann und ich fuhren also durch den Ort und stellten fest, dass im Rechts-vor-Links-Anteil der Dorfstraße eine Radfahrerin einem Auto eiskalt die Vorfahrt nahm. Eine paar Querstraßen weiter wusste ich, dass ich vor dem Querverkehr Vorfährt habe und fuhr durch. Da ich aber noch den Vorfall mit der Radfahrerin im Kopf hatte, fragte ich noch mal: „Ich habe hier doch Vorfahrt, oder?“ Er so: „Ja, da war ein Spiegelei-Schild.“

Für den Moment war ich etwas perplex, dann versuchte ich, mir das Schild vorzustellen. Bis zum nächsten real zu sehenden Vorfahrtsstraßenschild war ich der festen Auffassung, diese Schilder seien außen gelb und innen weiß, aber ich bekam’s nicht vor mein inneres Auge. Natürlich ist das Verkehrszeichen für die Vorfahrtsstraße außen weiß und innen gelb, aber ich reagiere im Normalfall wohl eher auf die für ein Verkehrszeichen einzigartige Form als auf die Farben.

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Farbe

Im Rahmen meines Beitrages zu einem nicht gezündeten Witz kam zwischen mir und einer Freundin die Frage auf, welche Farbe Protonen denn nun wirklich haben. Ich antwortete in der Inbrunst der Überzeugung: Keine. Warum? Nun: Protonen sind sehr, sehr klein – im Femtometerbereich. Das sind 10-15 Meter. Das sichtbare Licht hat Wellenlängen von 400 bis 800 Nanometern, also 10-7 Meter. Langwelligeres Licht wird dabei als rot wahrgenommen, kurzwelligeres als blau oder violett. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die kleinsten Strukturen, die man mit elektromagnetischen Wellen einer bestimmten Wellenlänge auflösen kann, etwa ein Zehntel der Wellenlänge groß sind.

Im sichtbaren Licht Protonen oder auch Neutronen zu sehen ist also vollkommen aussichtslos. Es stellt sich nun aber noch die Frage: Welche Wellenlängen oder Frequenzen der elektromagnetischen Strahlung absorbieren oder emittieren Protonen? Ich möchte nicht zu tief einsteigen, denn eigentlich will ich auf Farbe hinaus, nicht auf Teilchenphysik. Dennoch, ein bisschen muss ich in diesen sauren Apfel beißen: Atomhüllen sind ungefähr 0,1 Nanometer groß, im sichtbaren Licht also nicht auflösbar – aber sie absorbieren und emittieren sichtbares Licht. Das kommt, weil die Elektronen der Atomhüllen zwischen verschiedenen Schalen – verreinfacht könnte man von Umlaufbahnen sprechen – hin- und herwechseln können. Wechseln sie auf eine Schale weiter außen, brauchen sie dafür Energie – und absorbieren bestimmte Wellenlängen des Lichts. Durch diese Absorptionslinien hat man das Helium entdeckt, weil man im Licht der Sonne fehlende Wellenängen vorfand, die zu keinem auf der Erde bekannten Element gehörten. Natürlich können angeregte Atome durch sich abregen auch wieder Licht emittieren – Licht einer bestimmten Wellenlänge. Bei Übergängen auf der Atomhülle sind viele dieser emittierten Wellenlängen im sichtbaren Bereich, wir können sie also sehen und einer Farbe zuordnen.

Gehen wir von der Atomhülle zum Atomkern, wird alles rund 100.000fach kleiner. Da Protonen genausostark geladen sind wie Elektronen, wir sie aber einhunderttausendfach enger zusammenpacken, wirken viel größere Abstoßungskräfte. Damit wird die Energie, die bei Übergängen frei wird, auch viel größer – so dass der Atomkern typischerweise elektromagnetische Strahlung, also sowas wie Licht, wesentlich höherer Energie aussendet: Energien im Bereich des Millionenfachen der Energien, die von der Atomhülle freigesetzt werden, damit Wellenlängen, die um den Faktor einer Million kleiner sind – Gamma-Strahlung. Die können wir nicht sehen und es gibt auch keinen biochemischen Prozess, der mit einigermaßen gutem Wirkungsgrad einen bestimmten Wellenlängenbereich von Gamma-Strahlung unserem Sehnerv zugänglich machen könnte.

So. Nun komme ich zurück zur Farbe. Wie entsteht unser Farbeindruck? Nun – das ist nicht so schwierig, erst recht, wenn wir gerade von der Physik kommen. Unser Auge hat vier Rezeptoren für Licht: Die nur auf Hell oder Dunkel reagierenden, sehr empfindlichen Stäbchen und drei, bei manchen Leuten vier verschiedene Typen Zapfen. Die Sehzapfen haben ihren höchsten Wirkungsgrad für das Verwandeln von einfallendem Licht in Sinnesreize in unterschiedlichen Bereichen. Weil die Sehzapfen ihre Wirkungsgradmaxima jeweils in Bereichen haben, die wir dann Blau, Grün und Rot nennen, können wir Farben aus diesen Grundfarben zusammensetzen. „Blau“ ist dabei aber nicht „eine Wellenlänge“, sondern alles, was mehr Licht im Bereich um 420nm Wellenlänge herum enthält als anderes Licht, sehen wir als Blau. Da unser Sehen ein wesentlich komplexerer Vorgang ist als nur „Licht fällt ein, Sehsinnesreiz entsteht“, müssen wir die Wechselwirkungen innerhalb der Netzhaut, den Sehsinnesnerv und unsere optische Nachbearbeitung in den Gedanken einbeziehen, wo Farbe entsteht. Zunächst einmal sieht man dem Signal, das  auf dem Sehnerv transportiert wird, nicht an, ob es vom Zapfen mit 420nm Wirkungsgradmaximum, vom Zapfen mit 534nm Wirkungsgradmaximum oder vom Zapfen mit 564nm Wirkungsgradmaximum erzeugt wurde. Viele Signale vieler Rezeptoren mit einem Sehzentrum im Hirn, das anhand des jeweils ankommenden Kabelstrang weiß, welche Art Sinneszelle am anderen Ende hängt, werden dann zu einem Farbeindruck zusammenprozessiert.

Puh. Das war viel, oder? Fand ich auch. Ich hoffe, ich habe nicht zu stark vereinfacht und bin nicht zu schnell vorgegangen. Aber ich brauche diese Voraussetzungen, um meinen Gedanken aufzubauen. Denn: Nach der Frage einer Freundin, ob nicht vielleicht irgendein Wesen, das einen anderen Rezeptor für elektromagnetische Wellen hat, vielleicht doch sagen könnte, welche Farbe Protonen haben, kam in mir Widerwille auf. Ich konnte es nicht genau benennen, WARUM, aber ich war mir ganz sicher, dass man nicht einfach hingehen, einen Rezeptor definieren und den ausgelösten Eindruck dann eine neue Farbe nennen kann, die dann die Farbe eines Protons ist. Spricht ja eigentlich nichts dagegen, oder? Wie gesagt, meine Intuition brüllte: „NEIN! Das geht so nicht!“, aber meine Ratio fand keine Begründung. Ich habe das dann noch mit der Freundin weiter diskutiert und wohl ziemlich weit ausgeholt, dann hatte ich darüber noch eine Debatte mit einer anderen Freundin. Inzwischen habe ich, glaube ich, herausgefunden, wo der Grund für diesen Widerwillen liegt.

Dafür fragte mich eine Freundin: „Was hindert uns daran, eine Farbe ‚Gnirf‘ mit beispielsweise 345nm Ansprechmaximum des zugehörigen Sehzapfens zu definieren?“ Die Debatte war etwas länglich, im Endeffekt fand ich im ersten Satz des Wikipedia-Artikels zu Farbe meine Begründung.

Farbe ist ein durch das Auge und Gehirn vermittelter Sinneseindruck, der durch Licht hervorgerufen wird, genauer durch die Wahrnehmung elektromagnetischer Strahlung der Wellenlänge zwischen 380 und 760 Nanometer.
Quelle: Wikipedia.

Ja. So einfach ist das. Farbe ist der Sinneseindruck, der durch Auge und Gehirn vermittelt wird und durch Licht bestimmter Wellenlänge hervorgerufen. Hier liegt mein Unbehagen bei der Farbe „Gnirf“. Unser Gehirn wird sie dann doch nur wieder als eine der Farben interpretieren, die wir kennen.

Natürlich können wir nun fragen: „Was, wenn es einen weiteren Rezeptor gibt, der ans Auge angeflanscht ist und…?“ Gute Frage. Es gibt solche weiteren Rezeptoren, denn manche Menschen besitzen einen vierten Typ Sehzapfen mit Anschlagmaximum im Türkis, bei 498nm Wellenlänge. Nun kann man die Frage stellen, ob diese Tetrachromaten mehr Farben sehen – oder nur unsere Farben auf andere Weise. Sicher, das additive Farmischsystem funktioniert bei ihnen immer noch irgendwie so ähnlich wie bei den Trichromaten. Wie wir mit dem Sinneseindruck „Farbe“ umgehen, ist nämlich in hohem Maße Konvention. An dieser Stelle ist die Sichtweise „Farbe“ auf den unserem Erleben zugänglichen Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums ein grundlegend anderes Paradigma als die Sichtweise „Wellenlänge“. Wir haben für unser Erfassen von elektromagnetischen Wellen das Konstrukt Farbe, das an unser ganzes biochemisches System gekoppelt ist, den ganzen Ballast aus emotionalen Reaktionen auf bestimmte Farben, Instinkten bei bestimmten Farbkombinationen beinhaltet und somit kaum von unseren biologischen Rezeptoren und der Nachbearbeitung im Gehirn abkoppelbar ist. Speise ich in dieses System, das aus dem direkten Erleben des Feuerwerks, das Sehzapfen, Netzhaut, Sehnerv und Sehzentrum mit uns veranstalten, einen Reiz ein, der eine andere Wellenlänge repräsentiert, wird dieser Reiz im Kontext unseres Erlebens verarbeitet und ist somit – eine Falschfarbe. Schaffe ich ein System, das hinreichend weit von unserer optischen Signalverarbeitung abgekoppelt ist, dass ich wirklich und wahrhaftig den Output eines Sensors für hochenergetische Gamma-Strahlung einkoppeln kann, lande ich bei einem Sinnesreiz-Interpretationssystem, das nicht mehr unser Konzept von Farbe ist, sondern etwas Anderes.

Das Erfassen elektromagnetischer Wellen als Spektrum mit vielen verschiedenen Wellenlängen ist hinreichend allgemein, um neue Frequenzen einzukoppeln – aber es ist nicht unser Konzept von Farbe.

Ich habe mein Unbehagen und den Grund dafür also aufgelöst, indem ich unsere Idee von „Farbe“ als ein Konstrukt (oder eine Gesamtheit von Konstrukten) definiert habe, das nicht beliebig auf andere Wellenlängen verallgemeinerbar ist, ohne mit dem Bezug auf unser Erleben von biochemisch wahrgenommenen, neuronal aufbereiteten Daten eine seiner wesentlichen Eigenschaften zu verlieren. Ein ähnlich geartetes, erweitertes oder erweiterbares Konstrukt „Farbartige Gesamtheit von menschlichen und hypothetischen weiteren Sinneseindrücken ausgelöst von elektromagnetischen Wellen“ halte ich nicht für undenkbar, spreche ihm aber wesentliche Eigenschaften des Konstrukts, das ich unter „Farbe“ verstehe, vehement ab.

Offenbar ist es mal wieder Zeit, mir vor Augen zu führen, dass die aus dem radikalen Konstruktivismus für mich resultierende Toleranz für andere Sichtweise auch beinhaltet, dass andere möglicherweise Farbe nicht mit all dem Eigenschaftenballast überfrachten, den ich als integralen Bestandteil des Konzepts Farbe empfinde.

Sie dürfen jetzt lachen!

Kennt Ihr das? Ihr macht einen Witz, der eigentlich, nach Eurem Dafürhalten, ganz gut zünden sollte. Aber es geschieht gar nichts! Keiner lacht!

Mir passiert das schon hin und wieder mal, vermutlich, weil ich einen etwas eigenwilligen Humor habe; oder eventuell einfach meine Witze schlecht sind, wer weiß das schon?

So geschah es auch am Donnerstag in der Vorlesung. Ich war schon mit etwas mehr als zweieinhalb Doppelstunden Vorlesung an diesem Tag „gut warmgeredet“, brauchte aber im Gegensatz zur Prognose eines Kollegen noch keine Hustenbonbons. Es ging um Atomkerne. Üblicherweise werden Atomkerne als Zusammenballung von roten und weißen Kügelchen dargestellt – die roten sind die Protonen, die weißen die Neutronen. So weit, so halbwegs geläufig. Auf einem Bild auf meinen Vorlesungsfolien waren zwei Protonen, die einander durch elektrostatische Abstoßung abstießen und – nahe genug zusammen – durch die starke Kernkraft anzogen:

ProtonenAnziehung.jpgBildquelle: Kernenergie Basiswissen, kernfragen.de.

Ich erklärte also, wie das mit den Kräften hier so ist, dann merkte ich an:

„Elektrostatische Abstoßung gibt es natürlich nur zwischen Protonen, und die erkennen wir auch dadurch, dass sie als rote Kugeln dargestellt werden. Protonen sind natürlich nicht rot.“

Ich hielt kurz inne, in meinem Kopf formte sich die Gedankenfrage: „Soll ich’s wirklich machen, oder lass‘ ich’s lieber sein?“ Ganz atypisch antwortete mein Kopf, trotz eher konzentriert guckender Studenten vor mir: „Ja!“ Also fuhr ich fort:

„Protonen sind nämlich eigentlich grün.“

Schweigen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. In meinem Kopf ratterte es: „Haben die das nicht kapiert? War der wirklich so schlecht, dieser Witz?“ Naja. Ja. Der Witz war so schlecht. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht doch noch einen Lacher einfordern würde:

„Der hat jetzt nicht gezündet, oder?“

Da lachten sie alle und ich habe einfach mitgelacht. Manchmal ist es so einfach: Lachen sie nicht über Deinen Witz, lass‘ sie gemeinsam mit Dir über den missglückten Witz lachen. Das gilt übrigens nicht nur für Studenten, sondern eigentlich immer.

Ich nehme allerdings stark an, dass Ihr, meine Leser hier, diesen Witz auch nicht lustig findet. In meiner Promotionszeit hatten wir mal eine sehr ernsthafte Debatte darüber, ob Myonen blau oder rot seien, und was das für die Linien, die Eisen und Protonen im Massenspektrum kosmischer Strahlung darstellen, bedeuten würde. Vielleicht war die damalige Debatte für mich die hinreichende Vorgeschichte, um Protonen lustig zu finden, die rot dargestellt werden, aber eigentlich grün sind. Vor allem, weil die Debatte über die Färbung von Elementarteilchen so absurd ist – selbst gemäß der Quantenchromodynamik, die so etwas wie „Farbladungen“ als Modell kennt, wären Neutronen wie auch Protonen weiß, da sie Baryonen sind und sonst nicht stabil. Aber das ist eine andere Geschichte.

Eventuell sollte ich einfach versuchen, mich mit Euch zu einigen, dass wir gemeinsam über den gescheiterten Witz lachen. Wäre das was?