Vor einiger Zeit habe ich mich in irgendeiner Debatte – ich weiß nicht mehr genau, wo das war – zum Thema Realität geäußert. Es ging dabei um Perspektiven und darum, welche „besser“, „echter“ sind als andere.
Im Zuge dessen fiel bezogen auf meine Sichtweise der Begriff des „radikalen Konstruktivismus“, einer Haltung der Erkenntnistheorie. Ich gebe zu, dass gewisse Übereinstimmungen da sind, aber ich ziehe andere Schlussfolgerungen, bin vielleicht auch nicht in der vollen Konsequenz radikal im Sinne der Radikalität des radikalen Konstruktivismus.
Aber von vorn. Wo entsteht Realität? Als Mensch mit umfangreicher Phantasie und mit einer manchmal von der gesellschaftlichen Referenz abweichenden Selbstwahrnehmung ist das für mich eine interessante Frage. Die gefühlt „natürliche“, einfachste, aber auch zutiefst egoistische Sichtweise ist, dass es die eine Realität gibt, die meiner Welt und Weltsicht entspricht und gleichgesetzt werden kann mit der objektiven Realität, also dem, was unabhängig von mir und meiner Betrachtung vorhanden ist. In diesem Falle ist der, der die Welt anders sieht, eben einer, der falsch liegt. Das kann man beliebig nuancieren, eine Weiterentwicklung der eigenen Realität durch Lernen und das Machen von Erfahrungen postulieren und so weiter. Dennoch bleibt am Ende des Tages das Realität, was ich wahrnehme, unterstellterweise identisch mit dem, was andere wahrnehmen würden, wenn sie klar sähen.
Für mich ist es offenkundig, dass das nicht dem entspricht, was aus der Vielzahl von Wahrnehmungen und Nuancen meiner Freunde und anderer Mitmenschen um mich herum spricht. Letztlich ist das, was ich sehe, auch nicht das, was am Auge ankommt oder von den Rezeptoren in meinem Auge wahrgenommen wird – nein, das Bild entsteht erst dort, wo mein Gehirn Kontrast erhöht, Muster hinzufügt und so weiter. So ähnlich sieht es mit gesellschaftlichen Zusammenhängen aus. Jeder, der einen bestimmten Sachverhalt unter Schlafmangel oder völlig ausgeschlafen unterschiedliche beurteilt hat, kann das sehen. Auch Hormonspiegel (nein, ich spiele nicht auf den Zyklus an, ich spiele auf den Unterschied zwischen Mann und Frau an), traumatische Ereignisse, prägende Ereignisse und so weiter spielen eine entscheidende Rolle, was wir in bestimmten Dingen, Ereignissen, Zusammenhängen sehen und was nicht. Sicher sind da auch religiöse Überzeugungen und dergleichen mit dabei.
Im Endeffekt komme ich zu dem Schluss, dass abhängig von der jeweiligen Person das, was diese Person für die Realität hält, sich mehr oder minder stark von dem unterscheiden kann, was irgendwer anders für die Realität hält – dieser „irgendwer anders“ könnte auch ich sein. Es ist nun eine ziemlich anmaßende Haltung, wenn ich meine Realität als „mit der objektiven Realität identisch“ identifiziere und alle anderen zu fehlgeleiteten Idioten oder Verrückten abstempele (Achtung, überspitzt). Wenn ich also als Subjekt nicht beurteilen kann, ob meine persönliche Realität mit dem, was meine Wahrnehmungsorgane, meine mentalen und spirituellen Filter ursprünglich gesehen und in meine Realität transformiert haben, kann ich es auch bei anderen nicht. Wenn also jede Realität eines Subjekts gleichberechtigt und beliebig weit von einer objektiven Realität entfernt ist, ist die Beurteilung der „Entfernung“ einer individuellen, subjektiven Realität von der objektiven Realität nicht mehr möglich. Es gibt dabei – in meinen Augen – nicht einmal mehr die Notwendigkeit einer objektiven, absoluten Realität – zumindest interessiert sie nicht, weil wir ja eh nicht sehen können, wie nah oder weit wir davon weg sind oder ob wir recht haben, jemand anderes recht hat oder gar keiner. An dieser Stelle bin ich beim radikalen Konstruktivismus.
Jetzt kommen aber zwei (nicht ganz unwichtige) „Aber“: Erstens gibt es sowas wie einen Konsens, was wahr, real und – ja, genau: richtig ist. Ich behaupte, dass dieser Konsens vor allem davon geprägt ist, dass sich viele Individuen einig sind, weniger von einer akkurateren Darstellung der objektiven Realität durch viele Augen. Eine Argumentation, viele gemeinsam würde etwas „Objektiveres“ als Konsens produzieren, möchte ich nicht völlig ausschließen, aber eben auch nicht stützen. Wichtig ist, den Konsens einer Gemeinschaft nicht per se für identisch mit der objektiven Realität zu halten. Zweitens gibt es Menschen, deren Realität eher stark vom Konsens abweicht – bei manchen merklich, bei anderen so stark, dass sie keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsames Denken mehr mit den anderen haben. Diese Personen sind – im wahrsten Sinne des Wortes – diesem Realitätskonsens „verrückt“ oder „entrückt“. Noch einmal, ich spreche – ganz besonders in der Selbstwahrnehmung – auch den Personen mit abweichender Realität jedes Recht auf diese Realität zu – und genau das möchte ich auch von anderen erwarten.
Im Gegensatz zu einem Vertreter des radikalen Konstruktivismus, der keine Ethik aus der Theorie ableitbar sieht, bin ich allerdings der Ansicht – und darin auch nicht allein – dass gerade aus dem Anerkennen, dass jeder aus seiner eigenen Realität heraus handelt, ich dessen Realität anerkennen muss – und das Anerkennen der meinen auch von ihm verlangen sollte. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass wir vielleicht nicht in derselben Welt leben, da diese Welt, diese Realität in unseren jeweiligen Köpfen entsteht. Aber so lange wir interagieren, gibt es einfach Dinge, die in der Welt, der Realität, der Selbstwahrnehmung des Gegenüber für ihn untragbar sind. Wenn ich meinen Gegenüber als fühlendes, denkendes Wesen mit daraus resultierend eigener Realität anerkenne, deren Identität mit einer „übergeordnet objektiven Realität“ nicht mehr und nicht weniger nachgewiesen werden kann als meine eigene Realität, habe ich seine Grenzen und Bedingungen zu akzeptieren.
… ohne es recht zu merken, habe ich nun hier aus dem radikalen Konstruktivismus eine abweichende Formulierung eines leicht modifizierten „Kant’schen Kategorischen Imperativs“ hergeleitet und gegen die christliche „Goldene Regel“ abgegrenzt, kann das sein, oder denke ich das gerade nur?
Dass hier eine gewisse Spannung mit naturwissenschaftlicher Erkenntnisfindung besteht, die ich ja als Physikerin durchaus ebenfalls betreibe, ist mir bewusst. Aber ich werde diesen Beitrag erstmal sacken lassen, bevor ich mich daran mache, wie ich damit im Verhältnis zum oben Geschriebenen umgehe.