Memory

Das Grab meiner Mutter und ihrer Eltern.

Vergangene Woche Freitag ist mein Patenonkel gestorben, ganz unverhofft beim Schachspiel. Meine Großcousinen und meine Tante wollte ich damit auf keinen Fall allein lassen und so fuhren wir heute in meine alte Heimat zur Beerdigung in den Nachbarort meines alten Heimatorts.

Auf dem Heimweg drehten wir noch eine Schleife durch meinen Heimatort und besuchten auf dem Friedhof das Grab meiner Mutter und derer Eltern. Ich weiß, dass meine Mama es ohnehin weiß, aber ich habe ihr erzählt, dass ich nun wieder Rennrad fahre und ihr versprochen, dass ich nicht so wild Rad fahre wie früher. Wir gingen mit dem wohligen Gefühl, dass mein Mann – den sie im Leben nie kennengelernt hat – meiner Mutter nun viel vertrauter ist als die ersten Male, die er mit am Grab war.

Auf dem weiteren Heimweg fügte ich noch eine Schleife an – wir fuhren nicht direkt von Wimpfen wieder nach Bonfeld und dann auf die Autobahn, sondern die Erich-Sailer-Straße in Wimpfen raus Richtung Heinsheim, am Wimpfener Schwimmbad die Steige runter und Richtung Guttenberg. In umgekehrter Richtung hatte ich in einer denkwürdigen Rennrad-Tour vor über 23, vielleicht sogar vor 24 Jahren bis Heinsheim am Hinterrad meines Vaters im Windschatten gehangen und ihn dann, mit einer Kletterer-Attacke am Wimpfener Schwimmbad, für die „Bergwertung“ hinter mir gelassen. Mein Mann war durchaus beeindruckt von der damaligen Rennstrecke.

Nun sind wir wieder daheim und ich hänge Gedanken nach…

Retro-Feeling

Es ist komisch.

Ich fahre seit 8 Monaten wieder Rad, eigentlich sogar etwas länger. Ich habe seit über zwei Monaten ein Rennrad. Eigentlich hätte ich längst über all das stolpern müssen, das mir nun durch den Kopf geht. Eigentlich.

Aber es war erst diese Woche, dass ich plötzlich all die Gedanken an den Radsport, den ich in meinen Teenagerjahren verfolgte, wieder denke. Ich schaute auch in meinen Zwanzigern noch gerne die Tour de France und die Vuelta a España an, manchmal auch gerne einen Klassiker. Nur Paris-Roubaix eher nicht, das tat mir irgendwie weh. Heute nun kam mir wieder ein weiterer Gedanke…

Und so schaute ich mich mal um. Es ist ja so gewesen, dass ich im Juli 1997, mit 17 Jahren, wohl auf dem damaligen Gipfel meines Rennradfahrens war. Ich war das Scheuerberg-Rennen mitgefahren, wurde auch langsam flotter, lernte Dinge über das Windschattenfahren und dergleichen. Rennrad-Instinkte stellten sich ein. Da fuhr ich eines Abends, um meinen Vater an der Waldschenke zwischen Bad Wimpfen und Obereisesheim zu treffen, hinter unserem Haus den asphaltierten Feldweg hinunter und fuhr vor einen Geländewagen.

Im Krankenhaus bekam ich zwei- oder dreimal dasselbe Geschenk. Es war 1997, das Jahr, nachdem im Trikot des Teams Deutsche Telekom Bjarne Riis die Tour de France gewonnen hatte, das Jahr, in dem ein junger Fahrer namens Jan Ullrich eigentlich für Bjarne Riis‘ zweiten Tour-Sieg arbeiten sollte, sich aber als der besser in Form befindliche Fahrer erwies. Es war 1997, bevor all die Dopingskandale mir den Radsport verleideten. Das Jahr, in dem Jan Ullrich sich auf der breiten Passstraße nach Andorra Arcalis immer wieder umsah, ob seine Verfolger bereits zu sehen waren, und doch eine leere Straße sah. Es war das Jahr, in dem in Deutschland die Radsportverrücktheit neue Höhen erklomm, weil ein Deutscher in einem deutschen Team die Tour de France als Gesamtsieger gewann und ein Deutscher in einem deutschen Team die Punktewertung der Tour de France gewann – Jan Ullrich und Erik Zabel. Heute sind beide von Doping-Skandalen gerupft, damals waren sie Helden. Meine Helden!

Das Genesungsgeschenk, das ich damals zwei- oder dreimal erhielt, als ich im Krankenhaus lag und meinen knöchernen Bandabriss wieder angeschraubt bekam und mich danach dort erholte, war ein Trikot des Teams Deutsche Telekom.

Es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der man sich noch wesentlich einfacher der Illusion hingeben konnte, dass EPO, Steroide und Cortison im Profi-Radsport Ausnahmen seien, eine Zeit, in der keiner den Begriff des Eigenblut-Dopings kannte und eine Zeit, in der noch nicht klar war, wer Dr. Fuentes war.

Ich erinnere mich an all diese Dinge, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. Ich verunglückte auf dem Fahrrad damals während der Tour de France 1997, während der legendären drei Wochen im Juli – auf meinem persönlichen Kalender am Mittwoch der vorletzten Schulwoche vor den Sommerferien in meinem elften Schuljahr, dem letzten Jahr vor der Kurssystem-Oberstufe. Ich weiß gar nicht, ob ich Jan Ullrichs Fahrt nach Andorra Arcalis vor oder dann im Krankenhaus sah. Ich erinnere mich aber nun auch wieder sehr deutlich, wie ich 2004 vor meiner letzten Hauptdiplomprüfung in Physik für mich selbst ein Belohnungssystem aufsetzte:

„Schaffst Du es, gehst Du in die Stadt, holst Dir eine Flasche Sekt und haust 10 Euro auf den Kopf, wird’s eine drei, mach‘ 20 Euro draus – bei einer zwei dann 50 Euro.“ Ja, es waren bescheidene Studienzeiten. Aber dann kam die Ergänzung: „Wird’s eine eins, vergiss die Flasche Sekt. Fahre zum Supermarkt und lade Dir Dein Auto mit haltbarem Essen und Getränken voll – und fahre zur 16. Etappe der Tour de France, zum Berg-Einzelzeitfahren… zum Contre la Montre nach l’Alpe d’Huez.“

Ich bekomme Gänsehaut, während ich das schreibe. Es war ein Gefühl, ein Happening. Ja, ich habe mein Experimentalphysik-Hauptdiplom mit einer eins abgeschlossen, bin direkt danach nach Hause, fuhr zum größten Supermarkt in Karlsruhe und lud mein Auto mit haltbarem Essen und Getränken voll. Dann machte ich mich auf den Weg. Am frühen Abend fragte ich in Basel auf einer Stadtstraße einen alten Schweizer, wie ich abseits der gebührenpflichtigen Autobahnen nach Genf käme. Eine junge Schweizerin übersetzte die mir unverständliche Antwort. Nach einer langen Odyssee entlang des Lac du Neuchatel landete ich in Genf und kreiste fast zwei Stunden – zwischen halb drei und halb fünf Uhr früh, bis ich einen gebührenfreien Weg nach Frankreich fand. In der Mittagshitze fand ich mich schließlich auf einem Parkplatz an einer kleinen Industrieanlage, direkt an der Romanche, einige Kilometer vor Bourg d’Oisans wieder. Am nächsten Morgen lief ich ein Stück nach oben, bestieg einen Bus und fuhr halbwegs planlos den Berg hoch… über einen anderen Skiort fuhr ich mit dem Lift hoch und dann wieder runter nach l’Alpe d’Huez. Etwa 200 Meter vor der „Flamme Rouge“, dem Teufelslappen 1000 Meter vor dem Ziel, fand ich einen Platz an der Strecke, direkt am Ausgang einer steilen Kurve, auf der Außenseite. Neben mir Belgier auf der einen, Franzosen auf der anderen Seite. Drei, vier, fünf Stunden standen wir mit wenig Wasser und viel Vorfreude in der Sonne, dann zogen sie im Dreiminutentakt an uns vorbei: All die Fahrer der Tour de France, ich hätte sie fast berühren können, bei manchen spürte ich die Schweißspritzer auf der Haut. Ausgemergelt wie er war, blieben mit von Marco Pantani nur die riesigen Ohren in Erinnerung, und der kämpfende, aber gegen Lance Armstrong verlierende Ivan Basso tat mir so leid.

Mit dem Sonnenbrand meines Lebens kehrte ich zu meinem Auto zurück. Himmel, ist das lange her!

All die schönen Erinnerungen an eine fast vergessene Zeit als Radsportfan werden von meiner neuen Rennrad-Hobby-Karriere wieder an die Luft gelassen. Und das ist auch das, wonach ich mich umschaute, vor gefühlt unendlich vielen Absätzen: Ich habe mir heute über Ebay zwei Trikots im Stile des ONCE-Teams bestellt, das ONCE-Team, wie es aussah, als Laurent Jalabert und Alex Zülle dort fuhren, bevor andere Sponsoren dazukamen, bevor man Manolo Saiz‘ Verstrickung ins Doping wusste. Eins in rosa wie bei „der Tour“, eins in gelb. Kann dauern, bis sie da sind. Dazu stellte ich fest, dass „Jaja“, also Laurent Jalabert, den ich für seine Wandlung vom sprintenden Gewinner des grünen Trikots bei der Tour zum Sieger im Bergtrikot und für sein bescheiden-sympathisches Auftreten bewunderte, auf Strava ist – und klickte gleich mal drauf, ihm zu folgen.

Ich kann immer noch sagen, dass eine Berg-Etappe eines großen Rundfahrt-Rennens zum spannendsten gehört, was ich beim Sport im Fernsehen anschauen erleben kann. Nur Eiskunstlauf und American Football kommen für mich da ran. Und dann erst das kurze, heftige Gewitter des Massensprints… auch wenn da natürlich mit hineinspielt, was vor kurzem bei der Polen-Rundfahrt passiert ist, und es mir etwas vergällt.

Lang ist das alles für mich her – und doch nun wieder aktuell. Ist das nicht merkwürdig, wunderbar und vielleicht ein bisschen erschreckend zugleich?

Reminiszenz

Gestern habe ich die A8 erlebt – seit langem mal wieder zu Pendlerzeiten. Ich war allerdings nur Beifahrerin. Es ging vom Karlsruher Dreieck bis Leinfelden/Echterdingen und zurück, im Rahmen der Fahrt zu einer Besprechung in Tübingen.

Es gibt eine Baustelle im Anstieg von der Rheinebene auf den nördlichsten Ausläufer des Schwarzwalds, der übliche Stau vor Pforzheim-Ost in beiden Richtungen existiert noch. Um das Leonberger Dreieck herum herrscht der übliche Wahnsinn. Alles also noch da – die erste der beiden Brücken bei Pforzheim-Ost, die für den sechsstreifigen Ausbau neu gebaut werden müssen, spannt sich bereits über die volle Breite der künftigen Autobahn. Ich fühlte mich wie eine Touristin.

Dann las ich dem Kollegen am Steuer die „Ode an die A8“ vor. Er fand sie ziemlich gut! Lange habe ich sie nicht gelesen, deswegen …

Ode an die A8

Oh holdes Band aus schwarzem Stein,
Oh Straße die führt weg vom Rhein,
Bist ständig hier und da in Bau,
Doch auch der Unfall führt zum Stau.

Führest über Berg und Tal,
Im Stau ist es ’ne wahre Qual.
Doch bist Du frei, die Sonne lacht,
Könnt ich Dich lieben, oh A8.

Oh holdes Band aus dunklem Stein,
Oh Straße die führt hin zum Rhein,
Hunderttausende von Wagen,
Sich auf Dir täglich weiter plagen.

Doch rollen meines Autos Reifen,
Oft ruhig und schnell auf Deinen Streifen.
Ich schätze Dich, bei Tag und Nacht,
Sei bitte frei, Autobahn Acht.