Trainieren heißt auch, Ziele zu haben und etwas zu tun, um diese zu erreichen. Das gilt für Sport genauso wie für andere Dinge. Ich habe festgestellt, dass Sport, bei mir das Laufen, mich vieles über sinnvolle und weniger sinnvolle Ziele gelehrt hat, auch darüber, wie man sie erreichen kann. Es gibt natürlich auch andere Systeme, die sich mit Zielsetzung und dem Management der Erreichung dieser Ziele befassen.
Ein Klassiker aus der Ausbildung für Führungskräfte ist die SMART-Methode. Ein Ziel soll folgende Kriterien erfüllen:
- S wie spezifisch:
Das Ziel soll spezifisch sein – also konkret und klar formuliert, so dass ich zu jeder Zeit, also auch in den Phasen, in denen ich selbst zweifle, ersehen kann, wo ich hin will und ob ich das Ziel erreicht habe. - M wie messbar:
Am besten sind natürlich Ziele, bei denen man die Erreichung in Prozent angeben kann, die also quantitativ messbar sind. Allgemein sollte aber eine Messgröße – wie abstrakt sie auch sein mag – existieren, um die Erreichung des Ziels zu verifizieren. - A wie attraktiv:
Lasst mich einen meiner liebsten Filme zitieren…
„Wie bringt man eine Crew dazu, ein U-Boot zu verlassen?“ – „Wie bringt man eine Crew dazu, ein Atom-U-Boot…“ – „Sie muss da raus WOLLEN!“
Wenn das Ziel nicht attraktiv ist, werde ich nicht motiviert sein. Ob nun der wünschenswerte, der attraktive Effekt die Vermeidung von schlechten Dingen bei Nicht-Erreichen oder die Belohnung für’s Erreichen ist, ist erstmal egal. Attraktiv wird das Ziel, weil es mir persönlich einen wünschenswerten Vorteil gegenüber der Nicht-Erreichung gibt. - R wie realistisch:
Ich sage manchmal, ich scheitere oft an meinen Ansprüchen. Genau das Gegenteil ist ein gesundes Ziel. Ziele sind nur dann gute Ziele, wenn man sie auch erreichen kann – am besten, wenn man Kontrolle über ihre Erreichung hat. Natürlich ist es attraktiv, messbar und spezifisch, einen Weltrekord zu erzielen oder viel Geld zu gewinnen, aber realistisch ist es nicht (also zumindest für mich). - T wie terminiert:
Es muss klar sein, wann das Ziel zu erreichen ist. Wenn das Ziel nicht mit einer Deadline versehen ist, wird es manchmal schwierig, die Erreichung hinreichend strebsam zu verfolgen. Allerdings muss man an dieser Stelle vorsichtig sein – auch die Terminierung muss realistisch sein, und zwar im Kontext aller anderen Ziele, die man erreichen möchte und muss.
Ich habe dieses Konzept schon oft erzählt bekommen, da ich Führungskräfteseminare mitmachen durfte/musste. Seltsamerweise erscheint es „logisch“, dass Personen, die in der Wissenschaft einen Doktortitel erworben haben, Führungskräfte sein sollen, können und wollen, weswegen sie auf solche Seminare geschickt werden. Das ist ein spannendes Thema für sich, da der Doktortitel (sofern es kein „h.c.“-Doktor ist) vor allem etwas über die Befähigung zum selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten aussagt, nicht aber über die Führung eines Teams – weder über den Willen noch über die Befähigung hierzu. Aber lassen wir uns nicht auf Abwege bringen.
Hmm… einen Abweg habe ich noch! Ich verspreche, ich verfolge ihn nur kurz. Das obige „SMART“e Ziel ist nur dann ein SMARTes Ziel, wenn es ALLE Kriterien erfüllt. Viele Ziele, die einem im Arbeitskontext vorgespielt werden, sind nur SMT. Realismus und Attraktivität (bzw. Sinnhaftigkeit) der Ziele stehen oft in Frage, insbesondere im Kontext der konkreten Terminierung. Dieses Haushalten – und damit verlasse ich diesen Abweg – wird einem beim Sport sehr deutlich vor Augen geführt, denn wenn man sich für etwas, das nix bringt und wohl auch nicht gut geht, die ganze Zeit quält, kommt nix bei raus – außer vielleicht eine Verletzung und eine Menge Frust.
Somit sind wir zurück beim Sport, der mir etwas über Zieldefinition, Streben nach der Zielerreichung und Zielqualität beigebracht hat. Darum geht es auch in dem Büchlein Mentaltraining im Ausdauersport von Constantin Doll, neben einigen anderen Aspekten. Trainingsplanung atmet sehr viel von Zieldefinition und Zielerreichung – hier beziehe ich mich auch ein bisschen auf Peter Greifs Buch „Greif – for running life“. Im (Lauf-)Sport haben wir eine recht komfortable Situation: Zeit, Strecke, Geschwindigkeit lassen sich hervorragend messen. Auch die Reihenfolge des Zieleinlaufs lässt sich hervorragend messen, aber dazu komme ich gleich noch. Das „M“ bei den SMARTen Zielen ist also kein Problem. Somit wird’s halbwegs einfach, auch das „S“, das Spezifisch-Sein, mit abzufrühstücken. Die Kunst liegt nun in „ART“, und irgendwie gefällt mir dieses Wortspiel schon jetzt sehr gut.
Was ist attraktiv im Laufsport? Genau das, was Ihr jetzt denkt, ist die Denke der meisten Leute: Oben auf einem Treppchen stehen, gewinnen! Attraktiv ist das auf jeden Fall! Ich merke es immer wieder, wie sehr die Attraktivität eines Sieges (insgesamt, in der Geschlechtsgruppe, in der Altersklasse) die Wahrnehmung von Laufergebnissen beeinflusst. Verdammt, es ist hammercool, oben auf einem Treppchen zu stehen, hab‘ ich bisher zweimal bei Läufen insgesamt (bei den Frauen) geschafft – 2019 beim Campus Run der Uni Stuttgart und 2022 bei der Bergdorfmeile. Attraktiv ist das – aber das ist nur das „A“ in der Kunst.
Realismus und Terminiertheit setzen einen wesentlich engeren Rahmen, der Siege oder Platzierungen als valide Ziele von vorne herein disqualifiziert. Denn realistisch betrachtet, ist bei einem konkreten Wettkampf (terminiert) oder bei irgendeinem Wettkampf (nicht terminiert) meine Platzierung nicht nur von meiner Leistung abhängig, sondern von der An- oder Abwesenheit anderer, stärkerer oder schwächerer Läuferinnen und Läufer abhängig. Siegen, Vorweglaufen, das kann ich situativ zur Motivation benutzen. Ich kann auch situativ sagen: Ich möchte eine bestimmte Arbeit schneller hinbekommen als die Konkurrenz. Aber was die Konkurrenz beim Laufen oder auf der Arbeit oder sonstwo tut, kann ich nicht kontrollieren. Ich habe keinerlei Handhabe über Terminiertheit und Realismus eines Sieges. Zu sagen, mein Ziel ist es, „schneller als XY“ zu sein, sofern XY nicht ich selbst zu einem bestimmten, weniger gut trainierten Zeitpunkt ist, erlaubt keinerlei Kontrolle über die Erreichbarkeit des Zieles.
So, das hätten wir also. Ein Sieg ist kein „SMART“es Ziel. Ein Ziel, das nicht „SMAR“ ist, wird kein Stück besser, bloß weil es terminiert ist, auch außerhalb des Laufens. Daher bin ich inzwischen der Meinung, wir sollten uns auf das konzentrieren, was wünschenswert und durch uns selbst kontrollierbar ist. Natürlich dürfen wir die zweite Bedeutung das „A“, die ich oben großzügig übergangen habe, nicht aus den Augen verlieren. Ein Ziel, das nicht auch ambitioniert ist, ist es nicht wert, ein Ziel zu sein.
Am Ende des Tages liegen wir also für ein SMARTes Ziel bei etwas, das wir selbst kontrollieren können, das einen Mehrwert bringt, das wir messen und beziffern und klar verstehen können und das wir zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen WOLLEN und auch KÖNNEN. Ganz typische Ziele sind nun also…
- Auf einem bestimmten Wettkampf oder in einem bestimmten Zeitraum auf einer bestimmten Strecke eine bestimmte Zeit zu unterbieten. Es ist nicht nur valide, was ich diese Saison getan habe
„Regensburg-Marathon 2023 am 21.05.2023 in 3:05 laufen.“
Das ist EINE Variante eines validen Sport-Ziels. Die andere Variante habe ich auch schon ein paar Mal genutzt, so zum Beispiel:
„Im Jahr 2019 auf der Halbmarathon-Distanz die 90 Minuten unterbieten.“
„Bevor ich 50 werde auf der Marathon-Distanz die drei Stunden unterbieten.“
Das sind valide Ziele, sofern sie realistisch sind – anhand meiner Vorleistungen denke ich, dass das letztere realistisch ist, das erstere habe ich bereits im Mai 2019 erreicht gehabt, und somit war es wohl realistisch. - Ein bisschen komplizierter, aber nicht minder SMART wird’s bei etwas anders gestrickten Zielen. Ich setze mir zum Beispiel jedes Jahr das Ziel, im Jahresdurchschnitt 20 Kilometer pro Tag zu radeln und 10 Kilometer pro Tag zu laufen. Messbar ist das auf jeden Fall, spezifisch auch, realistisch ist es nur, wenn ich nicht krank werde – Abhilfe schafft an dieser Stelle, dass ich Kranktage herausrechne und das Ziel als „10 Kilometer Laufen pro Tag, den ich nicht krank bin, im Jahresschnitt“ umformuliere – und am Ende des Jahres rechne ich ab, terminiert isses also. Aber attraktiv? Für mich schon. Ich stehe auf Zahlen. Für andere vielleicht nicht. SMART liegt also im Auge des Betrachters. Ähnlich verhält es sich beim Streak-Running, das wiederum ist für mich nicht attraktiv genug.
- Richtig spannend wird es bei anders gearteten Zielen im Sport. Ich habe das Laufen ursprünglich angefangen, um weniger krank (durch wetterfühlige Kopfschmerzen) zu sein. Das ist spezifisch, es ist auf jeden Fall attraktiv, realistisch ist es bei meiner Art von Kopfschmerzen auch. Die Terminierbarkeit ist ein Problem, und messbar… tja, an dieser Stelle kommt Kreativität ins Spiel. Ich kopple mein Trainings- mit meinem Schmerztagebuch. Läuft! Mindestens SMAR ist das Ziel, aber die Terminiertheit ist eher so’n sliding window.
Kommen wir zu einem „verzögerten Lemma“, nämlich zu SMARTen Zielen und Peter Greif. Da kann ich Euch eine ganz spezifische Begründung geben, warum ich die Marathon-Zielzeit in Peter Greifs Countdown als überaus smartes Ziel ansehe, warum ich die Messbarkeit und den Realismus hier gut abgebildet finde: Bei Greif ist das Marathonrenntempo, gerne als MRT abgekürzt, die Seele des Plans. Tempodauerlauf, Endbeschleunigung und die Intervalle in den letzten zwei Wochen vor dem Marathon laufe ich alle im MRT. Der ganze Plan zur Erreichung des Ziels atmet eine Eigenschaft des Ziels, ich habe das Gefühl für das Ziel bis auf in der Tempotreppe JEDES Mal in den Beinen, im Kopf, auf der Uhr, wenn ich Tempo mache. Messbar und spezifisch sind hier sehr deutlich realisiert, und wenn ich mich dem Plan unterwerfe, wird der Realismus des Ziels recht schnell aufgezeigt, in die eine oder andere Richtung.
Die Sache mit „Platzierungen sind keine guten Ziele, Zielzeiten schon“, die Sache mit der Kontrollierbarkeit habe ich aus Mentaltraining im Ausdauersport. Tja, und nun die Übertragung ins andere Leben… viele Ziele, die von Führungskräften gesetzt werden, lassen die Attraktivität für diejenigen, die sie erreichen sollen, deutlich vermissen. Man glaubt oft, die Attraktivität für den, der dafür ackert, durch Druck, durch enge Terminiertheit kompensieren zu können, und tötet dann auch noch den Realismus. Oft wird auch recht vage formuliert. Aus dem Ausdauersport habe ich gelernt, solche Ziele, die es an Konkretisierung, an Attraktivität (weil sie willkürlich sind und keinen Mehrwert an sich haben) oder an Realismus mangeln lassen, zu identifizieren.
Die Defizite bei Zielen im Berufsleben betreffen oft eher SAR (Spezifischsein, Attraktivität und Realismus, wobei mir prompt Search And Rescue) einfällt, im Sport hadern wir dann doch eher mit der Kunst (Attraktivität, Realismus und Terminiertheit zu verbinden). Und ich frage mich gerade, ob ich die ganzen Klammern, die ich mit diesem Text aufgemacht habe, nun wieder zu bekommen habe.